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Bremer Experte klärt auf Gefangen im Netz: Was hilft gegen Mediensucht im Jugendalter?

Laut einer neuen Studie der DAK verbringen rund 600.000 Jugendliche in Deutschland zu viel Zeit vor dem Handy, dem Computer oder der Konsole. Der Bremer Medienpädagoge ist mit der Studie nicht ganz zufrieden.
07.04.2023, 07:39 Uhr
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Gefangen im Netz: Was hilft gegen Mediensucht im Jugendalter?
Von Moritz Kalvelage

Mehr als 600.000 Jugendliche in Deutschland sind von Mediensucht betroffen – so das Ergebnis der kürzlich veröffentlichten Studie der Versicherung DAK zusammen mit dem Uniklinikum Hamburg-Eppendorf. Der Konsum von Computerspielen und sozialen Medien junger Menschen zeige eine alarmierende Entwicklung. Der Medienpädagoge Markus Gerstmann arbeitet beim Servicebureau Jugendinformation Bremen und rät Eltern, mit ihren Kindern über deren tägliche Mediennutzung zu sprechen.

Wieso sind Medien für Jugendliche so reizvoll?

"Oft werden dann Schminkvideos als Negativbeispiele aufgeführt. Aber das sind Prozesse, die in der Pubertät wichtig sind: Wie will ich als erwachsener Mensch sein", sagt Gerstmann. Durch Mediennutzung würden sich die Heranwachsenden so mit verschiedenen Lebensentwürfen auseinandersetzen, was besonders in der Pubertät soghaft auf Jugendliche wirken könnte. Mit Computerspielen sei es Jugendlichen möglich, eine neue Welt selbst mitzugestalten. Da viele Spiele sehr offen konzipiert sind, müsse man nicht einem Faden folgen wie bei einem Buch.

Welches Potenzial liegt in Mediennutzung?

Laut der DAK-Studie liegt die Mediennutzung Jugendlicher aktuell über dem Niveau von vor der Pandemie. Für den Medienpädadogen Gerstmann ist der Zusammenhang klar: "Medien waren in einer distanzierten und isolierten Zeit die Brücke zur Außenwelt." Viele Menschen hätten bereits um 18 Uhr den Fernseher angeschaltet, weil das Fußballtraining ausfiel oder Ausgangsbeschränkungen herrschten. Auch ohne Pandemie könnten Menschen durch Medien besser am gesellschaftlichen Diskurs teilnehmen und einfacher an Informationen kommen – "ein Schlaraffenland", wie es Gerstmann nennt und fügt an: "Es kann aber auch faul machen. Das ist ein Lernprozess, der zum Erwachsenenwerden gehört."

Ab wann ist der Konsum kritisch?

Als Computerspielstörung bezeichnet die Weltgesundheitsorganisation das Verhalten, wenn es mit Kontrollverlust und Priorisierung gegenüber anderen Aktivitäten einhergeht. Jugendliche nutzen die Medien weiter, obwohl negative Konsequenzen drohen. Das Verhalten hat soziale, persönliche und schulisch-berufliche Beeinträchtigungen.

Die hohen Zahlen der Nutzungszeiten seien Gerstmann bereits aus anderen Studien bekannt, er kritisiert aber die Einordnung in eine Mediensucht: "Wenn Kinder und Jugendliche in diesem hohen Maße krank wären, bräuchten wir ein unfassbares Hilfesystem." Er mahnt an, die Ergebnisse medienfreundlicher zu interpretieren, als es die Studie tue. Alle Menschen hätten viel mit Medien zu tun, ob es langes ferngesehen oder zu langes Lesen vor dem Schlafen sei. "So schnell von einer Mediensucht zu sprechen, wenn Jugendliche aber auch mal abtauchen und ihren Lebenswurf in Sozialen Median entdecken, sehe ich kritisch."

Rainer Thomasius ist ärztlicher Leiter des Deutschen Zentrums für Suchtfragen des Kindes und Jugendalters am Uniklinikum Hamburg-Eppendorf und für die Studie mitverantwortlich. Er sagt, dass gerade der Feed "mit immer neuen Fotos, Reels, Videos und Nachrichten ein hohes Suchtpotenzial" besitze. Ebenso biete das Streamen von Filmen und Serien Möglichkeiten, sich aus dem Alltag zurückzuziehen. Das große Angebot biete die Gefahr, dass Jugendliche die Kontrolle über die eigene Nutzungszeit verlieren.

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Trifft das Phänomen auch Erwachsene?

"Wir leben in einer Gesellschaft, wo Medien eine wahnsinnige Rolle für alle Menschen spielen – Zeitung, Hörfunk, Fernsehen", sagt Medienpädagoge Gerstmann. Dieses Unterstützungssystem sei dazu da, um einen lebendigen Alltag zu gestalten, die Arbeit zu organisieren und mitzubekommen, was in der Welt passiere.

Mit Blick auf die Mediennutzungszeiten von Erwachsenen sagt Gerstmann: "Ich finde das super spannend, wenn ich abends im Dunkeln spazieren gehe und um sechs Uhr abends überall die Lichter des Fernsehers flackern." Laut Statista lag die durchschnittliche Fernsehdauer aller Menschen ab drei Jahren in Deutschland pro Tag bei 195 Minuten – mehr als drei Stunden.

Gerstman zufolge hätten Erwachsene oft die Sorge, dass Jugendliche etwas falsch machen würden. Dabei sei es wichtiger zu schauen, was die Kinder tun und wie sie es tun. Man solle sie begleiten und in einen Dialog mit ihnen treten: "Ein Gespräch ist das niedrigschwelligste Hilfsangebot, mit dem gemeinsam kreative Entwürfe entwickelt werden können", sagt der Bremer Medienexperte. 

Welche körperlichen Folgen hat zu viel Mediennutzung?

Starker Medienkonsum hat orthopädische Probleme zur Folge: Rücken- und Nackenprobleme, aber auch Schmerzen in Unterarm und Hand. Ebenso sind trockene Augen eine Folge dauerhaften Konsums, so die Studie. Kritisch werde es für Gerstmann, wenn sich Menschen wegen des hohen Medienkonsums isolieren und soziale Kontakte vernachlässigten oder gar abbrechen würden. "Der Mensch ist ein soziales Wesen. Wenn er nicht mehr rausgeht, ist vielleicht der Punkt erreicht, bei dem man wirklich von Sucht sprechen kann."

Wo bekommen Betroffene Hilfe?

Gerstmann sieht es als Aufgabe von Eltern oder pädagogischen Fachkräften, Kinder und Jugendliche zu unterstützen. Mediennutzung sei ein Baustein für ein gutes Leben, aber jeder Mensch müsse selbst herausfinden, wie viel Mediennutzung ihn gesund sei.

In Bremen bieten verschiedene Stellen eine Suchtberatung mit dem Schwerpunkt Medien an – zum Beispiel die Ambulante Suchthilfe Bremen mit einer offenen Sprechstunde zu Mediensucht oder die Caritas, die Suchtberatung zu Medien bereitstellen. Desweiteren gibt es Erziehungsberatungsstellen wie die regionalen Beratungs- und Unterstützungszentren, die Hilfe anbieten.

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