Bereits mit zwölf Jahren hat Finn* online heimlich regelmäßig Striptease-Shows angeschaut. Auch im Fernsehen liefen damals nach Mitternacht auf den Sportkanälen Erotik- und Sexfilme. Als er mit 17 Jahren dann von zu Hause auszog, "war für mich die Hürde weggefallen, dass meine Mutter mich erwischen könnte", erinnert sich Finn. Und von da an sei die Situation eskaliert. "Ich habe morgens vor der Ausbildung den ersten Pornofilm geguckt und mich selbst befriedigt, nach Feierabend mehrere Sexfilme geschaut und vor dem Einschlafen noch einen.“
Auf den Weg zur Suchtberatung machte sich der eher zurückhaltende und schüchterne Bremer erst, nachdem die Beziehung zu seiner ersten Freundin gescheitert war. Denn die reale körperliche Nähe war für Finn ungewöhnlich: Seine Erektionsprobleme blieben für seine Partnerin unerklärlich, er selbst fühlte sich dadurch in der Beziehung unter Druck und konnte aus Scham auch nicht mit ihr darüber sprechen. Eigene Versuche, keine Pornos mehr zu schauen, scheiterten. „Ich habe gedacht, ich kriege das in den Griff", erinnert sich Finn. „Aber da habe ich mir was vorgemacht." Und ihm wurde klar, dass er professionelle Hilfe braucht.
„Ich glaube, dass das Thema viele betrifft und sie sich nur nicht trauen, dies zuzugeben", sagt der heute 23-Jährige. Diese Einschätzung teilt Eileen Strupat voll und ganz. Die Leiterin der Fachambulanz für Suchtprävention und Rehabilitation der Caritas bewundert Finns Offenheit: „Dass er mit mir als Frau so ehrlich darüber sprechen kann, finde ich mutig. Es ist wichtig, dass Pornografieabhängigkeit kein Tabuthema ist." Denn nach ihrer Aussage gehen Experten davon aus, dass sich Mediensucht je zu einem Drittel in Abhängigkeit von sozialen Medien, Spielsucht und den Konsum pornografischer Inhalte spaltet. Bei Pornosucht vermutet sie eine "extrem hohe Dunkelziffer", weil Sexualität in der Gesellschaft eher zu den Heimlichkeiten zählt.
Zwei Aspekte erschwerten die Prävention, wie Eileen Strupat aus Erfahrung weiß: Erstens habe die Mediennutzungszeiten in der Pandemie enorm stark zugenommen. Und zweitens seien pornografische Inhalte rund um die Uhr verfügbar. "Es fällt im Job nicht groß auf, wenn man sich für 15- bis 20-minütige Porno-Sessions mit dem Handy auf die Toilette zurückzieht", sagt die Suchtberaterin. "Im Homeoffice ist es noch einfacher." Schon bei ihrer Präventionsarbeit in Schulen habe sie mit Erschrecken festgestellt, wie viele pornografische Inhalte untereinander verschickt würden, ohne dass darüber gesprochen werde.
Bei der Mediensuchtfachambulanz registrieren Eileen Strupat und ihre vier Fachstellen-Kolleginnen, die Beratungsgespräche führen und bei Bedarf in Therapie- und Rehamaßnahmen vermitteln, vermehrt Anfragen. Diese Angebote nutzen ihr zufolge ausschließlich Männer. Einige Klienten sind sich ihrer Pornosucht bewusst und kommen gezielt. Beim Gros der zwischen 20 bis 30 Klienten pro Jahr ist Pornosucht mit Gaming gekoppelt und wird erst im Behandlungsprozess der Spielsucht erkannt.
Männer würden Pornografie als Fluchtmöglichkeit und Ausgleich zum Stress betrachten, so die Suchttherapeutin. "Ich kann rausgehen aus dem Moment, abtauchen in eine andere Welt, weg von der Unzufriedenheit im Alltag", sagt auch Finn. "Der Konsum von Pornos brachte mir unglaubliche Glücksgefühle." Als er in der Beratung der Caritas-Fachambulanz für Suchtprävention und Rehabilitation den Fragebogen zur Mediensucht ausfüllen sollte, habe er beim Ankreuzen auf die Frage nach der Häufigkeit des Konsums von Online-Erotik-Angeboten gezögert, erinnert sich Eileen Strupat. „Ich konnte sehen, dass er zunächst 'sehr oft' ankreuzen wollte, sich dann aber für 'oft' entschied." Das sei der Einstieg in intensive Gespräche gewesen.
Nach der Beratung entschied sich Finn für eine stationäre Therapie. Dort war auch sein Cannabis-Konsum ein Thema. Die in den Griff zu bekommen, fiel ihm nach eigener Aussage sogar leichter als die Pornosucht. Für Suchttherapeutin Strupat ist das verständlich: „Bei Cannabis ist Abstinenz möglich. Für Sexualität und Selbstbefriedigung dagegen muss Finn eine Form kontrollierten Konsums finden. Das ist nicht so einfach, das Tablet liegt in der Wohnung." Die Medien seien halt aus unserer heutigen Lebenswelt nicht wegzudenken.
Vom Alter her ist Finn eine Ausnahme. Pornosucht bei Männern zeige sich der Fachfrau zufolge oft erst zwischen 30 und 50 Jahren – meist wegen "steigenden Schwierigkeiten in der Partnerschaft". Männer würden sexuellen Leistungsdruck empfinden. Außerdem seien Porno-Sessions eine Möglichkeit, sich vom eigenen Verlangen abzulenken.
Finn gelingt es aktuell, keine Pornofilme zu konsumieren. Die Therapie habe ihm geholfen, zu erkennen, warum er süchtig wurde. Mit der Folge, sein Selbstwertgefühl aufzubauen und zu lernen, seine Identität zu finden und sein Leben zu gestalten. Er wisse nun, dass es Möglichkeiten zur Ablenkung gebe, um keine Pornos mehr zu schauen.
* der korrekte Name liegt der Redaktion vor