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Tabu Selbsttötung "Wir müssen viel früher anfangen, über Suizid zu sprechen"

Bundesweit treffen sich Menschen, die Partner, Eltern und Freunde durch Suizid verloren haben, in Gesprächsgruppen. Eine Gruppenleiterin erklärt, warum die Trauer nach einem Suizid besonders ist. Und was hilft.
07.02.2023, 11:38 Uhr
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Von Sophia Allenstein

Frau Helm-Schmidt, ist das Thema Suizid noch ein Tabu?

Sabine Helm-Schmidt: Viele Menschen trauen sich nicht, über Suizide zu sprechen. Es ist ein sehr persönliches Thema. Wenn wir ehrlich sind, haben wir alle schon einmal Krisen durchlebt. Und vielleicht auch den Gedanken, wie viel einfacher es wäre, wenn jetzt alles vorbei wäre. Ich denke, dass viele Menschen sich das nicht eingestehen wollen. Wir leben in einer Gesellschaft, die Leistung fordert und wo wir funktionieren müssen.

Für Themen wie Tod und Trauer bleibt im Alltag oft wenig Platz. Wie erleben das Menschen, die von einem Suizid betroffen sind?

Grundsätzlich erleben viele Trauernde eine Unsicherheit bei Mitmenschen. Einige ziehen sich zurück, ganze Freundeskreise können sich verändern. Auch Sätze wie "Nach einem Jahr solltest du über den Verlust hinweg sein" gibt es.

Ist das eine realistische Erwartung?

Nein, Trauerprozesse dauern bei jedem unterschiedlich lange. Es gibt keine feste Zeit, nach der es einem besser geht. Manche haben das Glück, mit einem Therapie- oder Selbsthilfegruppenplatz oder durch eine Trauerbegleitung durch die Trauer begleitet zu werden.

Inwiefern ist die Trauer nach einem Suizid besonders?

Die Menschen, die zurückbleiben, leiden unter Schuldgefühlen. Sie werfen sich vor, wichtige Hinweise nicht gesehen, den Tod nicht verhindert zu haben. Ein Stück weit ist ein Suizid auch ein Vertrauensbruch vonseiten des Suizidenten. Man fühlt sich allein gelassen. Auch Wut, Scham und Perspektivlosigkeit gehören dazu.

Sie leiten eine Selbsthilfegruppe für Suizidangehörige. Über Selbsthilfegruppen kursieren diffuse Vorstellungen. Wie läuft so ein Treffen ab?

Zunächst einmal: Es ist nicht nur bitterernst bei uns, es wird immer auch viel gelacht. Viele Menschen haben das Gefühl, nicht glücklich sein zu dürfen, während sie trauern. Aber das ist in Ordnung. Einige Regeln gibt es aber schon bei den Treffen. Etwa, dass wir uns in einen geschützten Raum begeben. Was dort besprochen wird, bleibt dort. Keiner muss sprechen, jeder darf. Am Anfang stellt sich jeder vor und erzählt, wie es ihm geht und wie die vergangenen zwei Wochen waren. Im Verlauf gehen wir dann auf einzelne Thematiken oder Probleme ein.

Wie kann eine Selbsthilfegruppe Betroffenen helfen?

Die Gruppe ist in erster Linie dazu da, uns gegenseitig Halt zu geben. Und dem Betroffenen zu zeigen, dass er mit seiner Trauer nicht alleine ist, sondern dass es vielen anderen Menschen ähnlich oder genauso geht. Ich bin von den Selbsthilfegruppen so überzeugt, weil wir gegenseitig voneinander lernen. Man bekommt neue Impulse, indem man sich über die Trauer und den Umgang austauscht.

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Was genau kann man denn voneinander lernen?

Dass die Trauer ein Prozess ist und sich diese mit der Zeit verändert. Es gibt Höhen und Tiefen. Es gibt Zeiten, da geht es mir gut, da kann ich nach vorne schauen. Und es gibt Zeiten, in denen man in ein Loch fällt. Trauernde lernen, dass es nach Tiefpunkten wieder aufwärts geht. Aber auch, dass die Trauer niemals ganz abgeschlossen ist.

Angenommen, ich möchte jemanden unterstützen, der trauert. Was kann ich tun?

Gut ist es, konkrete Hilfen im Alltag anzubieten. Das kann das Angebot sein, Kinder zur Schule zu bringen oder eine vor der Tür abgestellte Suppe von den Nachbarn. Ansonsten hilft es, zuzuhören und zu zeigen, dass man für den oder die Trauernde da ist. Vermeiden sollte man den Satz: Wenn du Hilfe brauchst, dann melde dich. Die Trauernden melden sich meistens nicht, weil sie damit überfordert sind.

Und wenn ich vermute, dass jemand Suizidgedanken hat?

Wenn Angehörige den Eindruck haben, dass jemand suizidgefährdet ist, sollten sie die Person darauf ansprechen und Perspektiven wie therapeutische Hilfen aufzeigen. Menschen mit Suizidgedanken haben oft das Gefühl, dass ihnen niemand zuhört. Wir müssen viel früher damit anfangen, über Suizid zu sprechen, zum Beispiel in Schulen.

Was sollte sich gesellschaftlich noch verändern?

Auch über Abschied und Verlust wird zu wenig gesprochen. Wir wollen immer, dass alle fröhlich sind, dass alle lachen. Und wenn jemand traurig ist, gehen wir sofort hin und trösten. Erich Kästner hat mal geschrieben: Wir trösten viel zu schnell. Das fand ich sehr passend. Emotionen brauchen einen Ausweg. Denn Trauern ist die Lösung und nicht das Problem.

Das Gespräch führte Sophia Allenstein.

Zur Person

Sabine Helm-Schmidt

ist Trauerbegleiterin und leitet die Agus-Gruppe Bremen, eine Selbsthilfegruppe für Menschen, die jemanden durch Suizid verloren haben. Bevor sie die Leitung im vergangenen Jahr übernahm, war sie mehrere Jahre als Teilnehmerin dabei.

Zur Sache

Die Agus-Gruppe Bremen trifft sich alle zwei Wochen donnerstags, für neue Interessenten gibt es eine Warteliste. Wer auf der Warteliste steht, hat die Möglichkeit, bereits an Online-Treffen teilzunehmen.

Wer von Selbsttötungsgedanken betroffen ist, sollte umgehend Hilfe annehmen. Bei der anonymen Telefonseelsorge gibt es rund um die Uhr Ansprechpartner. Telefonnummern der Telefonseelsorge: 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222 www.telefonseelsorge.de.

Info

Weitere Informationen zur Bremer Agus-Gruppe und dem Dachverband finden sich unter https://bremen.agus-selbsthilfe.de.

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