
„Da roll ich mich doch gleich auf den Rücken, wenn mich jemand am Bauch streichelt“: die Autorin mit den drei Bernhardinern am Bergsee.
Alba schnuppert kurz mit ihrer warmen, feuchten Schnauze an der Hand, die man ihr hinhält. Dann läuft sie schon zum nächsten aus der Gruppe. Sie begrüßt alle mit einem Schwanzwedeln und einem treuen Blick aus ihren braunen Hundeaugen. Wer bis dahin kein Fan der Schweizer Hunde war, schmilzt spätestens jetzt dahin.
Alba ist eine sechsjährige Bernhardiner-Dame und geht am Col du Grand Saint-Bernhard auf mehr als 2400 Metern mit Menschen wandern. Vielleicht kann man das genauso sagen. Denn in den kommenden, fast zwei Stunden wird sich alles um Alba sowie die beiden anderen Bernhardiner Rocky und Syrah drehen. Immer einer aus der Wandergruppe darf einen der drei Bernhardiner von der Stiftung Barryland an der Leine führen. Die Hunde gehen voran und wissen genau, welches der leichteste Weg zwischen den Felsen hindurch Richtung Bergkamm ist. Also folgt man ihnen am besten.

Das Hospiz der Chorherren vom Großen Sankt-Bernhard auf 2469 Metern bei sonnigem Wetter. Nur von Juni bis September ist der Pass schneefrei.
Seit dem 17. Jahrhundert haben die Augustiner-Chorherren vom Orden vom Großen Sankt-Bernhard die Hunde gezüchtet. 2005 haben sie die Obhut über die Tiere an die Stiftung Fondation Barry in Martigny im Schweizer Wallis abgegeben, die seitdem die Zucht übernommen hat. Barry ist der Name eines Bernhardiners, der zwischen 1800 und 1814 gelebt und bis zu 40 Menschen das Leben gerettet haben soll. Deshalb darf immer der schönste Bernhardiner in der Stiftung den Namen Barry tragen. In Martigny gibt es auch das Museum Barryland sowie die Zuchtstätte, in der die Hunde leben, spielen, trainieren und ausgebildet werden. „Bei der Zucht müssen bestimmte Standards erfüllt werden“, sagt Madeleine Wagner von Barryland. Die Bernhardiner sollen einen sportlichen und athletischen Körperbau sowie die Rute eine gewisse Länge haben, der Rücken gerade sein und das Gesicht die typische schwarze Maske über den Augen haben. „Wenn das nicht stimmt, ist der Hund nicht zur Zucht geeignet“, sagt sie.
Die Wandergruppe hat inzwischen die erste Steigung genommen. Zwischendurch ermahnt Claudia Müller ihre Hündin: „Alba, nein!“, ruft sie immer dann, wenn die Hündin an den Hinterlassenschaften der Mufflons knabbern will. Die kleinen Snacks zwischendurch muss die Hundedame zwar liegen lassen, zeigt sich aber ansonsten vor dem Bergpanorama von ihrer besten Seite.

Bernhardiner mit Geschirr.
Claudia Müller ist Leiterin von „Barry hilft“ sowie Heilpädagogin und arbeitet für die Fondation Barry. Alba lebt bei ihr zu Hause – und ist mit ihr im Einsatz. Denn das Tier ist ein Sozialhund. „Die Bernhardiner sollen eine zeitgenössische Aufgabe haben“, sagt sie.
Und damit räumen wir hier mal mit dem ersten Mythos auf, den es über die Schweizer Hunde gibt: Bernhardiner helfen heutzutage nicht mehr, Lawinenopfer aus den Schneemassen zu befreien. „Sie sind viel zu schwer“, sagt Claudia Müller. Sie wiegen zwischen 50 und 75 Kilogramm. Für die Bergung würden heutzutage kleinere und wesentlich leichtere Hunde genommen, denn Lawinenopfer werden meist per Helikopter gesucht sowie geborgen und in den leichten Fluggeräten komme es auf jedes Gramm an, sagt sie.
Als Suchhunde haben die Bernhardiner früher aber tatsächlich gedient. Sie halfen den Augustiner-Chorherren auf dem Großen Sankt-Bernhard-Pass beim Aufspüren vermisster Pilger, die von Lawinen oder Nebel überrascht wurden und nicht an ihrem Ziel eintrafen. Der Pass wurde trotz seiner Höhe schon früh begangen. „Während der Römerzeit war er einer der wichtigsten Alpenübergänge von Gallien nach Italien“, sagt Peter Stoffel von der Fondation Barry. Auf der Passhöhe stand damals ein Tempel zu Ehren Jupiters. Noch im Mittelalter hatte der Pass deshalb den Namen Mont-Joux (Berg Jupiter). Seit dem Mittelalter ist er auch Teil des Pilgerweges Via Francigena, zu deutsch: Weg aus dem Frankenreich. Er führte von Canterbury nach Rom. Die Chorherren haben die Pilger auf 2469 Metern beherbergt. Das sogenannte Hospiz gibt es auch heute noch, auch Pilger werden dort noch beherbergt. Und auf dem Pass gibt es weiterhin eine Station, in der von Juni bis September einige Bernhardiner untergebracht sind, um mit Besuchergruppen wandern zu gehen.

Wollgrasblüte am Bergsee.
Aber warum haben die Chorherren Hunde gebraucht? Etwa im 11. Jahrhundert wurde die Herberge auf dem Pass gebaut, weil der Weg über den Berg wegen der Lawinen und des Wetters gefährlich war. Allein für die Strecke von Martigny auf den Pass mussten die Pilger 2000 Höhenmeter überwinden – und taten das auch bei eisigen Temperaturen – auch auf die Gefahr hin, sich im Nebel zu verirren oder von einer Lawine verschüttet zu werden. Die Chorherren haben sich gemeinsam mit den Bernhardinern auf die Suche nach vermissten Pilgern gemacht. Die Hunde waren für sie in vielfacher Hinsicht praktisch: Bernhardiner haben dicke Pfoten, mit denen sie sich gut im Schnee halten, außerdem konnten sie durch ihr Gewicht Wege in den Schnee spuren. Und das Wichtigste: Mit ihrem Geruchssinn erschnüffeln sie die Verschütteten bis zu zehn Metern unter dem Schnee. Lebte das Lawinenopfer noch, begannen die Bernhardiner mithilfe der Maronniers, Angestellten der Chorherren, zu graben und das Lawinenopfer zu bergen. Die Bernhardiner dienten den Verschütteten mit ihrem kuscheligen Fell außerdem als „lebende Decke“, so Madeleine Wagner.
Und nun müssen wir mit dem zweiten Mythos aufräumen: Die Verschütteten erhielten keinen ordentlich Schluck Schnaps aus dem Fässchen, dass die Bernhardiner um den Hals trugen. Denn sie trugen keins. „Das ist eine Legende, ein Marketing-Gag“, sagt Madeleine Wagner von der Barryland-Stiftung mit einem entschuldigenden Lächeln. Es gebe zwar Briefe von Napoleons Soldaten, in denen die von einer Umhängetasche schreiben, aber in dem Säckchen befanden sich wohl Kräuter. „Irgendetwas Stärkendes“, sagt sie.
Inzwischen sind die Wanderer gemeinsam mit Alba, Rocky und Syrah an einem klaren Bergsee angekommen. Für die Gruppe gibt es eine Brotzeit, die Hunde marschieren zum Seeufer und schlabbern Wasser. Als der Durst gestillt ist, legen sie sich so ans Ufer, dass den Gästen gar nichts anderes übrig bleibt, als sie verzückt vor dem hübschen Bergpanorama zu fotografieren.
Claudia Müller nutzt die Zeit, um den Wanderern von ihrer Arbeit zu berichten. Die Hundeführerin geht regelmäßig mit Alba in eine Reha-Klinik. Dort arbeitet sie zum Beispiel mit einer Patientin, die Probleme mit dem rechten Auge und der rechten Hand hat. Auf der rechten Seite hält sie bei den Übungsstunden den Futterbeutel und wirft Alba Leckerlis zu. „Das ist zwar anstrengend für die Patientin, hat ihr aber geholfen, die Hand besser zu bewegen und mit dem rechten Augen Gegenstände zu fokussieren“, sagt Claudia Müller.
Anstrengend sind die Übungsstunden allerdings auch für Alba. Deshalb achten die Betreuer der Hunde darauf, dass sie nur zwischen 30 Minuten und höchsten einer Stunde mit Menschen arbeiten.

Wenn die so kucken: einfach niedlich.
Alba motiviert außerdem Patienten, die in der Psychiatrie Burn-out-Syndrome kurieren – und erreicht auch Menschen, die sich stark zurückziehen und nicht an den Gruppenstunden teilnehmen wollen. „Eine Patientin hatte sich abseits des Kreises gesetzt. Aber als ich jemanden gebeten habe, den Futterbeutel zu verstecken, ist sie als erstes vorgeschossen und hat ihn versteckt“, erzählt die Heilpädagogin. Dass der Bernhardiner den Patienten folgt oder einfach auf sie zukommt, habe etwas Herzerwärmendes: „Hunde sind vorbehaltlos, es ist ihnen egal, woher wir kommen, wie alt wir sind oder ob wir krank sind“, sagt sie. Ein weiterer Vorteil: Wenn ein Mensch einen Hund streichelt, wird das Hormon Oxytocin ausgeschüttet. „Das beruhigt“, sagt die Therapeutin.
Das gelte auch für Inhaftierte, die im Gefängnis Pöschwies im Kanton Zürich regelmäßig von einem der Bernhardiner samt Betreuer besucht werden. Zuvor wird eine Auswahl getroffen. Tierquäler kommen natürlich nicht in Kontakt mit den Hunden. „Es ist aber auch noch nie etwas passiert“, versichert Claudia Müller. „Im Gegenteil haben wir eher festgestellt, dass die Inhaftierten einen sehr liebevollen Umgang mit den Hunden pflegen.“ Die Häftlinge bräuchten oft etwas, „dass ihnen zeigt, dass es im Leben weitergeht“, sagt sie.
Mittlerweile hat die Gruppe den idyllischen Platz am Bergsee verlassen und macht sich an den Abstieg. Für die Bernhardiner ist es nun einfacher, ohne Leine zu laufen. Also gehen sie voran, balancieren auf den Felsen und springen zurück auf den Weg. Nach einer Kurve ragt das Hospiz auf, im Schatten einer Bergwand liegt noch Schnee. „Auf dem Pass liegt fast immer Schnee“, berichtet Madeleine Wagner. Etwa im Juni wird der Pass geräumt und ist dann für etwa drei Monate mehr oder weniger schneefrei. In den restlichen Monaten kam man damals wie heute nur mit Schneeschuhen oder Skiern auf den Alpenübergang. Dort sollen zum Teil fast unglaubliche 20 Meter Schnee liegen. „Die höchste gemessene Schneemenge liegt bei 23 Metern“, bestätigt Peter Löffler. Wer das Museum der Chorherren besucht, kann Fotos vom Anfang des vergangenen Jahrhunderts sehen, auf denen die Chorherren fast an der Dachkante stehen. Auch die Fenster in dem burgähnlichen Gebäude sind deshalb mehrere Meter über der Erde angebracht. So konnten die Chorherren bei viel Schnee aus den Fenstern steigen, denn das Haupttor lag weit unten, unter dem Schnee begraben.
Nach der Wanderung lassen sich Alba, Rocky und Syrah noch einmal über den Kopf streicheln und laufen mit ihren dicken Pfoten ein Stück den Berg hinauf zu ihren Hundehütten. Sie haben für heute genug gearbeitet – und Menschen glücklich gemacht.
Die Reise wurde unterstützt von Schweiz Tourismus.