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Die Angst vorm Fliegen „Es gibt zu viel Schönes auf der Welt“

Therapeutin Ingrid Richter hilft Menschen, die Flugangst haben. In unserem Interview spricht sie über Kontrollverlust, saure Zitronen und wie man die Angst überwinden könnte.
24.07.2021, 05:00 Uhr
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„Es gibt zu viel Schönes auf der Welt“
Von Marie-Chantal Tajdel

Saßen Sie eigentlich schon einmal in einem Flugzeug und hatten Angst?

Ingrid Richter: Ja, hatte ich, aber das ist schon lange her. Wir sind in New York in einem Schneesturm gelandet, und es gab Turbulenzen, das war nicht so angenehm. Aber ich komme aus dem Leistungssport und habe daher Übungen angewendet, die beruhigen. Einmal wäre ich in Rumänien auch fast nicht in ein Flugzeug eingestiegen, weil die Propellermaschine so klapprig aussah. Aber die Alternative wären zwölf Stunden in einem ähnlich schlimmen Zug gewesen. Also bin ich doch ins Flugzeug gestiegen und habe dort eine interessante Erfahrung gemacht: Die Passagiere haben zusammen gesungen. Wer singt, verliert übrigens die Angst.

Was löst denn überhaupt Stress beim Fliegen aus?

Für viele Menschen löst die Angst vor dem Unbekannten Stress aus. Das hängt damit zusammen, dass man nicht sieht, was unter einem ist. Und man hat im Flugzeug keine Kontrolle über den Flug. Wenn man eine gerade Straße entlang fährt, sieht man, was rechts und links ist und meint, dass man die Kontrolle über die Fahrt hat.

Ist das in einem kleinen Flugzeug auch so?

Wer in einer Cessna fliegt, sieht mehr und hat dadurch das Gefühl, eher die Kontrolle über die Situation zu haben.

Und in einem großen Flieger?

Da sieht man nicht, was passiert und man hört Dinge, die man nicht zuordnen kann. Das kann vor allem die Menschen stressen, die die Kontrolle behalten wollen. In einem Ferienflieger sind auch viele andere Menschen und man riecht deren Ausdünstungen. 

Der Geruch hat eine besondere Funktion.

Ja, schon allein der Geruch kann Ängste auslösen. Ich habe eine Kundin, die der Geruch nach Treibstoff am Flughafen stört, an einer Tankstelle übrigens nicht. Da muss man sich über einen längeren Zeitraum – etwa drei bis sechs Monate – so lange einen positiven Geruch vorstellen und mit dem Flughafen verbinden, bis man diesen Geruch mit dem Fliegen verbindet. 

Was kann noch Stress auslösen?

Schlechte Erfahrungen lösen Stress aus und wie schon gesagt, die Furcht vor Unbekanntem. Darunter leiden Menschen, die Angst vor Veränderungen haben. Äußere Umstände können aber auch Stress verursachen, etwa, wenn ich zu spät am Flughafen bin, falsch eingeparkt oder nichts gegessen habe.

Wann beginnt die Angst? Stunden oder Tage vorher?

Wenn die Betroffenen buchen sollen, haben sie Angst und lassen sich alles einfallen, um nicht buchen zu müssen. Wer gebucht hat, der hat oftmals Wochen oder Monate vorher Schweißausbrüche, Magengrummeln oder kann schlecht schlafen. Oft betrifft Flugangst außerdem Menschen, die auch andere Ängste haben. Sie leiden unter Panikattacken, Depressionen, Burn-out oder der Angst vor Kontrollverlust. Diese Menschen stehen Unvorhergesehenem negativ gegenüber. Deshalb ist auch ein Coaching wichtig. Denn wenn man eine der Ängste behebt, werden auch die anderen besser.

Wie viele Menschen sind eigentlich von Flugangst betroffen?

Acht Prozent der Menschen weltweit haben panische Angst vorm Fliegen. Sie sind entweder noch nie geflogen oder nur wenige Male. 16 Prozent steigen mit einem unguten Gefühl ins Flugzeug. Wer Angst hat, der verliert an Lebensfreude und darunter leidet oft die Beziehung. Es kommt vor, dass der eine Partner gern reist, der andere aber Angst hat, das limitiert dann. Es gibt aber auch Menschen, die gar nicht verreisen wollen und die Flugangst deshalb vorschieben. Man muss aber alle Formen von Flugangst ernst nehmen.

Kommt es vor, dass diese Menschen gehänselt werden?

Oft hängt das von Freunden oder der Partnerschaft ab. Hat man einen Partner, der einen eher gängelt oder heruntermacht und der sich deshalb über die Flugangst lustig macht, wird man sich noch schlechter fühlen. Aber es gibt eben auch die anderen, die sagen, dass sie denjenigen beim Flug die Hand halten oder mit ihm zusammen in den Flugsimulator gehen.

Das wirksamste Mittel gegen Flugangst soll das Fliegen sein. Stimmt das?

Ja, aber wenn wir mit Angst in ein Flugzeug steigen, ist das natürlich nicht das Beste. Auch Medikamente helfen nicht unbedingt, meist werden sie in der Luft sogar verstärkt und bewirken das Gegenteil. Ich würde es also mit einem Coaching versuchen: Warum habe ich Angst und woher kommt sie? Dann kann man ein Programm zusammenstellen und der Angst auf den Grund gehen. Sind es Geräusche beim Flug? Im Flugsimulator erklärt der Pilot, was hinter welchem Geräusch steckt, zum Beispiel die Landeklappe. Das hilft den Betroffenen, weil die Geräusche dann keinen Stress mehr auslösen. Allgemein versuchen wir, positive Gefühle zum Ferienflug aufzubauen. Aber, noch einmal: Es hat immer einen Grund, wenn ich Angst habe.

Hängt die Flugangst mit Urängsten zusammen?

Flugangst ist die Angst vor dem Absturz und auch die Urangst zu sterben. Angst ist ein Gefühl, dem kann man nicht mit dem Verstand beikommen, indem man Zahlen vorträgt, die beweisen, das Flugzeuge nur ganz selten abstürzen. 

Wie kann man den Betroffenen die Ängste nehmen?

Ängste sind etwas Schlimmes. Dessen muss man sich bewusst werden. Wenn ich im Urlaub schon wieder tagelang gestresst bin, weil ich Angst vor dem Rückflug habe, muss ich das doch anpacken. Der Urlaub soll entspannen. Im Coaching versuchen wir, das Gefühl Angst und den Verstand mit einem Bild, einer Metapher in Einklang zu bringen. Und man muss den Traum von einer Reise so vermitteln, dass der Wunsch danach so groß wird, dass der Betroffene es sich zutraut zu fliegen.

Und das funktioniert?

Ja, aber es braucht seine Zeit.

Was kann man akut tun, wenn man im Flugzeug sitzt und der Partner unter Flugangst leidet?

Die Angst anzunehmen und zu akzeptieren, ist das Wichtigste. Sich einzugestehen, dass sie jetzt im Moment da sein darf. Und sich einen Fernseher vorstellen, wo die Angst ganz groß ist und sehr laut. Jetzt kann ich die Angst leise stellen an der Fernbedienung, das Bild ganz klein machen und mir dann ein neues Fernsehprogramm kreieren. Auch gut ist es, eine neue Entscheidung zu treffen: Ich habe mich für die Reise entschieden weil – und dann schreibt man zehn positive Dinge, die mit der Reise zu tun haben, auf ein Blatt Papier. Eine andere Möglichkeit ist es, sich zu sagen, dass man den Urlaub genießen will: Man kann zehn schöne Dinge aufschreiben, die man im Urlaubsort erleben möchte. Dadurch übernimmt man die Kontrolle der Gedanken und ist selbst der Chef, nicht die Angst. Außerdem kann man etwa den Sitznachbarn oder den Reisepartner in ein interessantes Gespräch verwickeln und sich so ablenken. Wenn das alles nicht hilft: Sich ein Getränk mit Zitrone bestellen und in diese hineinbeißen. Denn das Gehirn kann sich nur auf eine Sache konzentrieren. Entweder auf die Angst oder auf die Reaktion durch die Säure der Zitrone.

Und was macht man bei Panikattacken?

Grundsätzlich kommt es natürlich darauf an, welche Angst man hat: Bei Panikattacken sollte man vorher schon die Flugbegleiter darüber informieren. Und es hilft, wenn man tief ein- und ausatmet. Sich auf den Atem zu konzentrieren, ist immer ein sehr gutes Mittel. Wichtig ist einfach, die Aufmerksamkeit auf ein anderes Bild und Gefühl zu lenken.

Gibt es Reiseunternehmen oder Fluggesellschaften, die gezielt etwas gegen Flugangst unternehmen?

Ja, die gibt es, viele Fluggesellschaften bieten das an. Reiseunternehmen müssen sich dem Thema noch öffnen. Dabei ist es gerade für sie auch wichtig, diesen Kundenkreis zu betreuen und spezielle Angebote zu entwickeln. Man muss die Menschen für Flugangst sensibilisieren und das Thema ernst nehmen. Es gibt viel zu viel Schönes auf der Welt zu sehen, um Angst zu haben. 

Das Gespräch führte Marie-Chantal Tajdel.

 

Zur Person

Ingrid Richter

ist Coach und Therapeutin sowie Seminarleiterin und Trainerin für stressfreies Fliegen.

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