"Schau mit beiden Augen – schau!“ Das sind Worte des Autors Jules Verne, Sohn der Stadt Nantes. Zu schauen gibt es in seiner Geburtsstadt Prachtvolles, Bezauberndes und Verblüffendes. Reibt man sich an einer Stelle noch erstaunt die Augen, gehen sie an anderer Stelle bereits über.
Suivez la ligne verte, folgen Sie der grünen Linie! Für den Kunstparcours dieses Namens, der auch auf und an der Loire entlang bis zur Mündung nach Saint-Nazaire führt, arbeiten einheimische wie internationale Künstler. Ihre Werke betonen das historische wie auch das zeitgenössische Nantes, machen mit Kreativität und Fröhlichkeit die Stadt zu einem Ort von Schönheit, mediterraner Leichtigkeit und Aufbruchstimmung. Bereits bei der Ankunft mit der Bahn schweift der Blick weit über die Stadt– der Bahnhof ist ein hoher Glasbau, gestaltet wie ein modernes Museum.
Urbaner Dschungel
In der Wohngasse Passage Bouchaud überrascht ein wuchernder Dschungel – Gräser, Büsche und Kletterpflanzen ranken wild und scheinbar undurchdringbar hinauf bis auf die Dachterrassen. Der urbane Garten Jungle intérieur, ein Projekt des Künstlers Evor, zwingt, wie viele weitere Objekte in Nantes, zu einem Perspektivwechsel.

Dschungel mitten in der Stadt von Künstler Evor.
Oftmals entstehen beim Betrachter Fragen, die zum Nachdenken, Weiterdenken anregen: Klettert das Schulmädchen, eine Skulptur am Cours Cambronne, auf das Podest hinauf oder herab? Bildhauer Philippe Ramette lässt die Antwort offen. Kann Musik auch für die Augen entstehen? Anscheinend. Das merkt man auf der Île de Nantes. Das Gebäude Manny ist von einer ultramodernen, feinen Fassadenhaut umgeben, die mit Metallnetzen durchzogen ist, der Künstler Rolf Julius nannte die Hülle Air. Der Wind schwingt hörbar durch die Fassade und verbindet sich sanft mit den Geräuschen der Umgebung.
Comicfigur verbindet sich mit der Stadt
Von der fröhlichen Cartoonfigur des Filili Viridi, die sich überall auf raffinierte, witzige Weise mit der Stadt verbindet, sind mal nur die Füße, dann der Kopf oder eine Hand zu sehen. Sie taucht auf in Bäumen oder im Parkteich oder rollt auf dem Place de la Duchesse Anne Rasen aus: Ein augenzwinkernder Hinweis darauf, dass Nantes – obwohl seit zehn Jahren beispielhaft nachhaltig und grün – weiterhin an der Renaturierung arbeiten sollte. Geschaffen hat die Figur der Künstler Jean Jullien; sein Filili Viridi lockt sogar kunstverrückte Koreaner in die einst größte Hafenstadt an der Loire.
Weiter geht es auf der grünen Linie in die dunkle Vergangenheit der Stadt: Über anderthalb Kilometer verläuft das Memorial für die Abschaffung der Sklaverei am Quai de la Fosse. Nantes war im 18. Jahrhundert Ausgangspunkt für den Handel mit Sklaven, die unter grauenvollen Umständen in die Neue Welt verschifft wurden. Dort mussten sie vor allem für Zuckerbarone in der Karibik arbeiten. Diesem unrühmlichen Kapitel ihrer Geschichte verdankt die Stadt ihren enormen Reichtum, besonders sichtbar ist das noch heute an den Prachtbauten im Stadtteil Île Feydeau. Bereits 1887 machte Jules Verne auf die unmoralische Sklaverei aufmerksam. Doch sollte es noch 125 Jahre dauern, bis des Sklavenhandels mit 2000 Namen gepeinigter Menschen gedacht wurde.

Air nannte der Künstler Rolf Julius die Hülle für das Bâtiment Manny.
Sehr chic, komfortabel und übersichtlich ist das öffentliche Verkehrsangebot mit der Straßenbahn – an den Wochenenden sogar kostenlos. Auf die Flussinsel gelangt man über sechs Brücken. Im Hangar à Bananes reifen längst keine Bananen und Ananas mehr. Dort vergnügen sich die Nantais in Bars, Restaurants, im neuen Gemüselehrgarten, der Kunstgalerie oder im Theater. Der gesamte Quai des Antilles ist ein Kunstpfad: Bei Dunkelheit leuchten Les Anneaux – mit 18 Ringen verbinden die Architekturkünstler Daniel Buren und Patrick Bouchain Vergangenheit und Zukunft.
Riesige Kunstwerke aus Metall
Spannende Spuren der industriellen Vergangenheit sind im Parc des Chantiers erhalten. Gleisanlagen und Kräne erfahren künstlerisch Wertschätzung und neue Funktionen. In einer ehemaligen Schiffswerft dann die Überraschung: les Machines de l’île und ihre Sensation, le Grand Éléphant. Zwölf Meter hoch und acht Meter breit ist das Kunstwerk. Der maschinelle Elefant setzt auf seinen täglichen Spaziergängen 48,4 Tonnen majestätisch in Bewegung, trompetet laut und versprüht aus seinem Rüssel Wasser. Die Künstlergruppe schafft mit ihrem Getier aus Stahl und Eisen einen Bezug zu den einstigen Docks und den Visionen von Jules Verne. Pläne, Zeichnungen und Arbeitsschritte aller futuristischen Bauten liegen offen, es ist weiterhin Großartiges zu erwarten.
Wer der grünen Linie folgt, verpasst rein nichts von der charmanten Stadt an der Loire, dem Fluss und der Mündung. Denn auch auf dem Wasser bis Saint-Nazaire am Atlantik verblüffen 33 ungewöhnliche Dauerkunstwerke unter freiem Himmel. In Höhe von Couëron etwa versinkt ein Wohnhäuschen dramatisch mitten im Fluss: Flussströmungen und Schlamm zwangen Künstler Jean-Luc Courcoult mit seinem Haus zum Umzug und regten zu diesem Werk an. Bei La Martinère scheint sich ein Segelboot über der Kaimauer verbogen zu haben.

Die Wasserschlange von Huang Yong Ping ist nur bei Niedrigwasser in der Loiremündung zu sehen.
Das monumentale Aluminiumskelett einer 120 Meter langen Seeschlange, das sich bei Saint Brévin-les-Pins rekelt, ist eine Skulptur des Künstlers Huang Yong Ping und wird erst bei Niedrigwasser freigelegt. Am Ziel der grünen Linie erwartet die Besucher schließlich die spannende Nutzung der noch immer unheimlich anmutenden deutschen U-Boot-Bunkeranlagen aus dem Zweiten Weltkrieg. Dort läuft im Roman „Das Boot“ von Lothar-Günther Buchheim das U-Boot U 96 aus. Heute liegt dort die „Espadon“, deren Sonar durch Mark und Bein geht. Es war das erste Unterseeboot der französischen Marine, das 1964 im Polarkreis auf Tauchfahrt unter das Packeis ging.
Kunstvoll schlafen und speisen
Sogar das Logieren hat einen Kunstfaktor: Das zentrale Design Hotel La Pérouse wurde aus einem einzigen Richemont-Kalksteinblock gehauen, ist Kulturerbe des 20. Jahrhunderts und eine architektonische Sehenswürdigkeit. Das Sozo-Hotel hingegen ist eine ehemalige Kirche. Sie ist idyllisch an einem der vielen, bezaubernden Parks gelegen, dem Jardin des Plantes. Es bietet feine Räume oberhalb des Kirchenschiffs sowie auf der Empore der Notre Dame des Anges von 1870 – mit Kreuzrippengewölbe und Bogenfenstern, elegant und farbenfroh das Interieur.

Eine Frage der Perspektive: Klettert das Schulmädchen auf den Sockel oder hinab?
Die Bretonen verstehen es von jeher zu speisen. In der fast 90 Jahre alte Markthalle Talensac – gleich dort, wo der Erdre-Fluss unter der Stadt verschwindet, um kurz hinter der Pont de Tiblissi in die Loire zu münden – duftet es nach frischen heimischen Zutaten. Verwendet werden die von Chef Sylvain Le Bras im Michelin-Restaurant L’instinct Gourmand. Es gehört, wie auch das feine Bistro Maison Bagarre oder das einem Boudoir ähnliche Le Bouchon mit seinem romantischen Garten, zu den 174 erlesenen Tables de Nantes. Diese kulinarische Tour durch bemerkenswerte Spitzenrestaurants ist allein eine Reise wert. Kein Besuch sollte jedoch enden, ohne eine landestypische Galette oder einen Crêpe probiert zu haben: Le Coin des Crêpes in der Rue Armand Brossard hat eine bemerkenswert köstliche Auswahl. Dazu einen typischen Muscadet, der südlich von Nantes angebaut wird.
Die Kunst hat Nantes auf einen Weg der Nachhaltigkeit geführt: Jeder Meter unterwegs auf der grünen Line öffnet mit Kunst, Schönheit und Humor Augen und Herzen. Das beispielhafte Parcourskonzept bezieht auch jene mit ein, die nicht sehen, hören oder gehen können.