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Aufhebung der Reisewarnung Urlaub von der Krise

Fernreisen fallen in diesem Sommer aus. Doch Urlaub in Europa soll nun trotz der Pandemie möglich werden. Reicht das den Reisebüros, den großen Verlierern der Corona-Krise?
04.06.2020, 05:00 Uhr
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Urlaub von der Krise
Von Nico Schnurr

Am Morgen, als die Bundesregierung beschließt, die Reisewarnungen für die meisten Länder in Europa aufzuheben, sitzt Ali Ihsan Yildirim in seinem Reisebüro am Ziegenmarkt und nimmt einen Anruf entgegen. Ein Mann aus Stuttgart ist dran, Stammkunde im Rentenalter. Er will in die Türkei fliegen, irgendwann im Juni. Yildirim hört zu, nickt, kritzelt Städtenamen auf einen Zettel. Köln, Istanbul, Gaziantep. Die Route steht, der Herr am Telefon ist zufrieden. Dass die Bundesregierung die Reisewarnung für die Türkei am Mittwoch nicht fällen lässt? Geschenkt. Er wird fliegen, sobald er kann, zurück in die alte Heimat, so wie er das schon vor Wochen tun wollte.

Die Globalisierung hat die Welt eingedampft. Alles erreichbar, selbst das entlegenste Ziel nur ein paar Flugstunden entfernt. Corona hat die Welt wieder aufgepustet. Weit weg, das heißt seit einer Weile wirklich wieder: weit weg. Und in diesem Sommer sogar manchmal: unerreichbar weit weg. Fernreisen fallen aus. Doch Urlaub in Europa soll nun möglich werden. Reicht das den Reisebüros, den großen Verlierern der Corona-Krise?

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Mittwochmorgen im Steintor. Im Reisebüro von Ali Ihsan Yildirim hängen Plakate von Postkartenstränden und Wolkenkratzern. Malediven, Dubai. Werbebanner, die etwas versprechen, das sie in diesem Jahr nicht halten können. Inhaber Yildirim sitzt an seinem Schreibtisch, ihn schützt eine Plexiglasschei­be. Er soll erzählen, wie die vergangenen Monate für ihn gewesen sind. Später wird Yildirim sagen: „Das Jahr ist gelaufen, eine große Katastrophe.“

Jetzt schiebt der Mann hinter der Scheibe die Ärmel seines Poloshirts bis zu den Schultern hoch. Er tippt auf seinen Unterarm, dann auf die Stellen darüber, die sonst verdeckt sind. Oben blasser Teint, unten dunkler, die Sonne, sagt Yildirim, „richtig gebräunt“. Der Reisebürobetreiber, ein gut gelaunter Mann Ende 50, könnte viele Dinge aufzählen, die ihm zuletzt Nerven gekostet haben. Lieber fängt er mit den guten Nachrichten an. Er habe nun eine Idee davon, wie sich das anfühlen könnte: Rentner sein. Kein Telefon, das ständig klingelt. Stattdessen Tomaten pflanzen, Kirschen ernten. Gar nicht übel, sagt Yildirim, hätte er ja nicht ahnen können.

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Seit er vor 20 Jahren das Reisebüro seines Vaters übernommen hat, ist Yildirim im Grunde immer im Dienst gewesen. Für den Fall, dass Familien anriefen, die schnell in die Heimat mussten, weil sie Verstorbene beerdigen oder Kranken Beistand leisten wollten, legte er das Telefon auf den Nachttisch. Oft, erzählt er, klingelte es. Er ging ran und buchte die Flüge noch in der Nacht. Ein Leben in Dauer­bereitschaft. Dann kam Corona. Die Anrufe wurden bald weniger. Sie drehten sich nun um Reisen, die nicht stattfinden sollten.

Um Angst und Absagen. „Wir mussten alles abwickeln“, sagt Yildirim, „die Buchungen storniert, die Provisionen weg, ein halbes Jahr Arbeit umsonst.“ Ob jetzt alles anders wird? „Viele Leute haben die Reisewarnungen als Reiseverbote verstanden“, sagt er, „vielleicht kommt nun das Vertrauen zurück.“

Manchmal schnappt sich Janet Ibis einen leeren Koffer und stellt sich auf den Marktplatz. Seit Corona gibt es ja auch das: protestierende Reisekaufleute. Ibis, die im Reisebüro First arbeitet, will auf die Lage der Branche aufmerksam machen, deswegen das Gepäckstück. Leere Koffer, leere Kassen. So einfach ist das. „Alle haben gerade eine schlechte Zeit, aber wir ganz besonders“, sagt Ibis, „der Umsatz ist gleich null, dazu müssen wir viel Geld wegen der Stornierungen zurückzahlen – das kann ja kaum funktionieren.“

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Sie habe vieles erlebt, das die Branche erschüttert habe. Autokraten, die durchdrehen. Terror in einer Urlaubsregion. Naturkatastrophen. Irgendwas ist ja immer, aber das alles ist nichts gegen eine Pandemie. Nicht ein Land, um das Touristen einen Bogen machen, sondern die komplette Welt als touristisches Sperrgebiet. „Eigentlich“, sagt Ibis, „ist es mein Job, Träume zu verkaufen.“ Zuletzt war das alles eher ein Albtraum für sie. Krisenfazit: „Katastrophe.“

Gerade telefoniert Ibis mit den Kunden, schreibt Mails. Noch hat das Reisebüro First geschlossen, bald soll es wieder öffnen. Doch mit einem Kundenansturm rechnet Ibis nicht. Daran ändere auch das Signal der Bundesregierung nicht viel. Auch nicht die Angebote, mit denen nun die Veranstalter lockten, Rabatte, kürzere Stornierungsfristen. „Die Leute haben nach wie vor Angst, sie sind verunsichert“, sagt sie, „das Risiko ist gering, aber der Gedanke hemmt: Niemand möchte im Ausland an diesem Virus erkranken.“

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Immerhin eine Erkenntnis, hofft Ibis, setzt sich vielleicht nach dem Buchen, Stornieren, Umbuchen dieses Krisenjahres durch: Gar nicht so schlecht, dass es die Reisebüros noch gibt. „Wir helfen bei diesem ganzen Wahnsinn“, sagt Ibis, „ die Internet-Suchdienste nicht.“ Im Steintor hört man einem Inhaber zu, der versucht, die Dinge positiv zu sehen.

Hoffnung? Habe er immer, sagt Ali Ihsan Yildirim. Wenn die Bundesregierung nun Entwarnung gebe, „wird das den Touristen Sicherheit geben“. ­Yilidirim wünscht sich, dass bald auch die Türkei nicht mehr zu den Ländern zählt, bei denen die Regierung von einer Reise abrät. Die Heimaturlauber würden sowieso hinfliegen. Doch die Pauschaltouristen würden sonst wohl wegbleiben. Muss ja nicht sein, findet Yildirim. Er fliegt in die Türkei. Belek, Urlaub von der Krise, eine Woche im September. Mehr Zeit ist nicht. Zu Hause wartet Arbeit. Hofft er.

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