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Integrationswillen "Migrantenmilieus" in Delmenhorst: Analysemodell wirft Fragen auf

Abschottung oder Anpassung? Ein neues Modell analysiert erstmals die Delmenhorster Migrantenmilieus. Neben dem Einkommen und der Lebensweise beurteilt dies auch den Willen zur Integration.
14.09.2018, 17:26 Uhr
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Von Björn Struß

Delmenhorst. Es war eine regelrechte Datenflut, die sich am Donnerstag über der Kommunalpolitik ergoss. „Meine Zeit reicht hier nur für ein kleines Potpourri an Ergebnissen“, begann Bernd Hallenberg vom Bundesverband für Wohnen und Stadtentwicklung (VHW) seinen Vortrag vor den Mitgliedern des Planungs- und des Wirtschaftsausschusses. 113 Folien umfasst die Stadtanalyse des Verbandes in Gänze, hinzu kommt eine 16-seitige Lesehilfe. Hochaktuell ist die Auswertung des sogenannten Migrantenmilieu-Modells, welches gezielt die Situation von migrantischen Haushalten betrachtet. Das neue Modell werde derzeit bundesweit angewandt und ausgewertet, diese Ergebnisse würden aber erst in etwa einem Monat präsentiert, sagte Hallenberg. Delmenhorst sei unter den ersten Städten überhaupt, die nun eine Auswertung der Migrantenmilieus bekommt.

„Es reicht nicht, gesellschaftliche Gruppen nur anhand ihres Alters und ihres Einkommens zu betrachten“, erklärte Hallenberg die Einteilung der Bevölkerung in unterschiedliche Milieus ganz grundsätzlich. Deshalb berücksichtige man auch die Lebensweise und moralische Werte. Unter den herkömmlichen elf Sinusmilieus finden sich dann Gruppen wie die „Bürgerliche Mitte“ oder auch die „Prekären“. Dieses Muster dient Soziologen, Politikern und Städteplanern als wichtige Grundlage für ihre Entscheidungen. Das Modell erfasst die gesamte Bevölkerung und hat sich über viele Jahre hinweg etabliert. Das neue Migrantenmilieu-Modell berücksichtigt hingegen nur Haushalte, in denen Menschen mit einem Migrationshintergrund leben. Die Definition erfasst auch in Deutschland geborene Kinder von Einwanderern. Ihr Haushalt ist automatisch Teil der Migrantenmilieus, unabhängig davon, mit wem sie inzwischen zusammenleben. Für Delmenhorst beziffern die Statistiker des VHW den Anteil dieser migrantischen Haushalte mit 40 Prozent.

Die insgesamt zehn gesellschaftlichen Gruppen der Migranten tragen Namen wie das „Religiös-Verwurzelte Milieu“ oder das „Adaptiv-Pragmatische Milieu“. Damit verbunden ist auch oft eine Aussage über den Willen zur Integration. Werden den Religiös-Verwurzelten „deutliche Rückzugs- und Abschottungstendenzen“ zugeschrieben, zeigten die Adaptiv-Pragmatischen hingegen eine „hohe Anpassungsbereitschaft“.

Spaltung manifestiert sich in Vierteln

„Eine Vertiefung der Spaltung ist auch innerhalb der Migrantenmilieus zu beobachten“, konstatierte Hallenberg vom VHW. Auf der einen Seite gebe es viele migrantische Haushalte, die praktisch komplett integriert seien. Doch andererseits würden deutschlandweit immer mehr Migranten sehr stark an der Kultur ihres Heimatlandes festhalten. Diese Tendenz lässt sich auch in Delmenhorst beobachten. Nach den Zahlen des VHW sind religiös-verwurzelte Haushalte in der Stadt mit einem Anteil von 11,4 Prozent an allen migrantischen Haushalten deutlich überrepräsentiert. Im gesamten Bundesgebiet liegt dieser Wert nur bei sechs Prozent.

Diese Spaltung entwickelt zunehmend auch eine räumliche Dimension. Denn wohlhabende Menschen mit Migrationshintergrund ziehe es zunehmend in attraktive Wohnlagen an den Stadtrand. Dies seien „Brückenbauer“ zu Migranten, die mit einem geringen Einkommen leben müssen, führte Hallenberg aus. Auf der anderen Seite lebten sozial abgehängte migrantische Haushalte in großer Zahl in Bezirken wie Düsternort. Am Ende seines Vortrags formulierte Hallenberg dann auch einen Appell in Richtung der Ratsmitglieder: „Diese Polarisierung zu verhindern, muss eine zentrale Aufgabe sein.“

"Das ist doch Quatsch"

Unter den aufmerksamen Zuhörern war auch Pedro Benjamin Becerra. Er war selbst bis 2016 Mitglied des Stadtrates, nun hat er den Vorsitz des Integrationsbeirates inne. „Viele Menschen mit Migrationshintergrund sind in Delmenhorst gut vernetzt. Nur weil sie in einen anderen Stadtteil ziehen, verlieren sie nicht den Kontakt zueinander“, argumentiert er im Gespräch mit dem DELMENHORSTER KURIER. Überhaupt sei es ganz normal, dass man sich nach den finanziellen Möglichkeiten eine bessere Wohnung oder ein Haus suche. In dem Punkt verhielten sich die migrantischen Haushalte wie alle anderen auch. Der Fortzug der „Brückenbauer“ an den Stadtrand sei für Becerra deshalb „weniger negativ zu bewerten“.

Alarmierend ist für Becerra hingegen eine andere Entwicklung: „Es ist ein Problem, wenn gut integrierte Familien zum Teil auch noch in der vierten Generation den Stempel ‚Türke‘ aufgedrückt bekommen.“ In der Politik sei insgesamt zu beobachten, dass nach den einzelnen Kulturgruppen zum Beispiel in den Arbeitslosenstatistiken gezielt gesucht werde. „Das ist doch Quatsch. Arbeitslosigkeit ist insgesamt ein Problem, für alle Menschen“, kritisiert Becerra.

Verband will Dialog mit Delmenhorst

Doch der VHW hat auch die Arbeitsmarktsituation in dieser für Becerra kritikwürdigen Weise unter die Lupe genommen. In Delmenhorst haben demnach im Bundesvergleich besonders viele geflüchtete Menschen noch keine Arbeit gefunden. Auf zehntausend Einwohner kommen 155 arbeitssuchende Flüchtlinge. Nur in zehn deutschen Städten sei dieser Wert noch höher, sagte Hallenberg. Delmenhorst hat im Verhältnis zur Einwohnerzahl fast dreimal so viele arbeitssuchende Flüchtlinge wie der Landkreis Oldenburg.

Aus der Sicht von Becerra sind diese Zahlen mit Vorsicht zu genießen. „Viele Bürger kommen dann schnell zu dem Urteil: Die wollen nicht arbeiten.“ Wichtig sei aber die Gesamtsituation. So würden einige Deutschkurse inzwischen nicht mehr angeboten, was für Geflüchtete ein großes Problem sei. Zudem sei die Wirtschaft in Delmenhorst auch nicht allzu groß, die Aufnahmemöglichkeiten demnach begrenzt. Becerra erwartet, dass in der weiteren Arbeit mit mit Migrantenmilieu-Modell auch die Menschen vor Ort gefragt werden. Die Chancen hierfür stehen gut, denn der VHW möchte laut Hallenberg in einem nächsten Schritt in einen „demokratischen Dialog“ mit den Delmenhorstern treten.

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