Vegesack/Blumenthal. „Die Arme bitte ausstrecken.“ Der Mann mit der Sicherheitsweste nimmt die Kontrolle gewissenhaft vor. Unterdessen wird die Schlange auf der Rampe vor dem Vegesacker Kulturbahnhof (Kuba) etwas länger. Es ist 9.45 Uhr und die, die hier warten, wollen nicht tanzen, sondern bei einer Zwangsversteigerung mitbieten: In Zeiten der Pandemie verlegt das Amtsgericht Blumenthal seinen Sitz auch schon mal dorthin, wo sich sonst Nachtschwärmer treffen.
Nach einem kompletten Lockdown im März ist das Amtsgericht wegen der Abstandsregelungen dazu übergegangen, vor allem größere Verhandlungen in den Kulturbahnhof Vegesack zu verlegen. Gerichtssprecherin Anna Reinke zeigte sich dankbar, dass die Justiz im Nachbarstadtteil aufgenommen werden könne.
Räume im Gericht zu eng
Die Anzahl derjenigen, die zu einer Verhandlung kommen, variiere stark: „Bei Zivilverfahren sind oft sowieso nur zwei oder drei Personen anwesend“, sagt die Gerichtssprecherin. Diese Verfahren fänden wie gewohnt mit ausreichend Abstand an der Landrat-Christians-Straße 67 statt. Anders sieht es da bei Zwangsversteigerungen aus. Diese lockten oftmals viele Besucher.
Auch Strafverfahren, insbesondere Jugendstrafsachen mit mehreren Angeklagten, Nebenverteidigern, Erziehungsberechtigten, Schöffen und Protokollkraft, seien unter den neuen Auflagen kaum im Amtsgericht zu verhandeln. Die Raumkapazität sei mit den Regelungen zur Eindämmung des Infektionsgeschehens auf ein Viertel des Möglichen gesunken. In den Sälen dürften sich zum Teil nur bis zu einem Dutzend Menschen gleichzeitig aufhalten. Anna Reinke: „Es wird eigentlich immer eng, wenn es mehr als ein Angeklagter ist.“
Der Umzug der Gerichtsbarkeit in den Kulturbahnhof sei jedes Mal mit „einem Riesen-Aufwand“ verbunden. Da Einlass-Kontrollen zur Vorschrift gehörten, müsste zusätzlich Personal eingesetzt werden. „Wir brauchen mindestens zwei Justiz-Wachtmeister, aber wir brauchen auch eine gewisse Anzahl von Kräften hier.“
An diesem Vormittag haben Justizhauptwachtmeister Tobias Bente und eine Kollegin Dienst im Kuba. Im Kulturbahnhof sind die Einlasskontrollen aufwendiger als am Stammsitz: „Im Amtsgericht steht uns eine Metallschleuse zur Verfügung.“ In Vegesack wartet Bente mit einer Handsonde an der Glastür: „Hier 'rüber bitte.“ Es piept, als er einen Besucher mit dem Gerät abtastet: nur ein Handy. Wenn er unerlaubte Gegenstände findet, seien es „meist Sachen, die die Leute unbewusst mit reinnehmen, wie ein Mini-Taschenmesser am Schlüsselbund.“ Am Amtsgericht hat Bente aber auch schon große Gebetsdolche sichergestellt. „Und einmal wollte eine Frau mit einem Spritkanister rein. Sie sagte, sie käme gerade von der Tankstelle.“
Wer an dem Justizhauptwachtmeister vorbei ist, passiert einen schwarzen Vorhang und steht dann vor Reihen von Stühlen, von denen die Hälfte mit blauen Plastikmüllsäcken bezogen ist. Rund zehn Bieter und eine Bieterin, allesamt mit Maske, sitzen unter der offenen Holzdecke mit den vielen Scheinwerfern. Einige tragen Aktentaschen oder Aktenmappen bei sich. Es wird kaum geredet. Vorne am Mikro sitzt Rechtspfleger Detlef Tölken und wartet, dass es zehn Uhr ist und er die Zwangsversteigerung eröffnen kann. Es geht um eine 2019 beschlagnahmte Eigentumswohnung an der Lesumer Heerstraße, dessen Eigentümer offenbar vor Jahren mit unbekanntem Aufenthalt verschwunden ist. Der Verkehrswert wird laut Tölken auf 162 000 Euro geschätzt.
30 Minuten Zeit haben die Anwesenden, um ihre Gebote abzugeben. „Sie müssen mindestens 81 000 Euro bieten“, informiert Tölken. Der erste Bieter, Geschäftsführer einer Nordbremer Gesellschaft, in Jeans und brauner Firmenjacke bringt seinen Ausweis nach vorn und nennt sein Gebot: 81 000 Euro. Ein Ehepaar überbietet ihn sofort: „85 000 Euro.“ Die beiden Parteien werden die einzigen Bieter bleiben, die sich ernsthaft für das Objekt interessieren. Schnell gehen die Zahlen nach oben. 120 000, 125 000, 130 000, 132 000. Zuletzt geht es in Tausenderschritten vorwärts.
Bisher sind die Verhandlungen, die in den vergangenen Wochen und Monaten im Kuba stattgefunden haben, noch an einer Hand abzuzählen. Doch laut Anna Reinke gibt es einige Verfahren nachzuholen, die coronabedingt durch den Lockdown ab Mitte März ausgefallen sind. Ende Juni war das Amtsgericht wieder zum Normalbetrieb übergegangen. „Es wird bis Jahresende mit Sicherheit mehr Verhandlungen geben“, so die Sprecherin. „Wir haben sehr viel zu tun.“ Wie viele Verhandlungen nachgeholt werden müssen, könne sie nicht sagen. Die Ausfälle seien statistisch nicht erfasst worden. Und: „Bei Zivilverfahren wurde zum Teil im schriftlichen Verfahren entschieden“, berichtet Anna Reinke.
Während die Frist für die Bieter im Kuba langsam abläuft und Zahlen beinahe im Stakkato in den Saal gerufen werden, steht Justizhauptwachtmeister Tobias Bente bereits wieder an der Glastür. Draußen hat sich die nächste Bieter-Gruppe versammelt. Ganz vorne wartet ein Paar mit Kinderwagen. Diesmal geht es um ein Einfamilienhaus.