Weyhe. Jonas Jäschke weiß, wo sie zu finden sind. Mit seinem Notizbuch und zwei Naturführern in der Hand streift er durch den Garten der Naturschutzstation des Weyher Nabu in Leeste. Immer mit dem Blick zum Boden. Ein Rundpfad ist frei gemäht, überall sonst recken sich Gräser, Wildkräuter und Pflanzen weit in die Höhe. Jäschke, 21 Jahre, zählt an diesem Nachmittag Insekten. Er führt eine Strichliste. Deutschlandweit hat der Naturschutzbund (Nabu) diesen zum Insektensommer erklärt. Unter dem Motto „Zählen wir, was zählt“ sind Menschen dazu aufgerufen, die Anzahl der krabbelnden und fliegenden Tiere eine Stunde lang in einem kleinen Bereich zu zählen. Die Daten nutzt der Nabu, um Rückschlüsse auf Bestände ziehen zu können.
Der erste Meldezeitraum war vom 31. Mai bis 9. Juni, am Sonntag ging nun der zweite zu Ende. Nachmeldungen dürften kurzfristig noch möglich sein, denkt Jonas Jäschke. Die erste Zählung hat er im heimischen Garten in Brinkum vorgenommen. Der Nabu hat pro Zeitraum acht Arten vorgegeben, die für den Laien gut zu erkennen und weit verbreitet sind. Wer weitere entdeckt, konnte auch sie über das entsprechende Online-Portal melden.
Hinter einen Kandidaten in seinem Buch kann Jäschke gleich neun Striche nacheinander setzen. Auf einer Blüte eines Doldenblütlers sitzt ein Sechsbeiner mit lauter Streifen auf dem Rücken. „Die Streifenwanze habe ich vor diesem Jahr nur an einer Stelle in Stuhr gesehen“, sagt der Brinkumer, der nach seinem Bundesfreiwilligendienst beim Umweltbeauftragten der Gemeinde Weyhe auch dem dortigen Naturschutzbund beitrat. Jäschke öffnet behutsam weitere Blüten, um zu sehen, ob dort noch mehr Wanzen stecken. Und tatsächlich, fast überall haben sie sich eingenistet. „Ist schön und nett anzusehen“, sagt er mit einem Lächeln im Gesicht, als er die Striche neben die selbst gemalte Zeichnung des Tieres setzt. Zirpen kommt aus allen Ecken des Gartens, der Wind rauscht durch die hohen Gräser. Die Wolkendecke zieht sich zu. Nicht gerade ideales Flugwetter für die Insektenarten mit Flügeln, sagt Jäschke. Schmetterlinge, Bienen und Hummeln sind nur wenige unterwegs.
Einem Lebewesen, das fälschlicherweise oft zu den Insekten gezählt wird, macht das Wetter wiederum gar nichts aus, es schwebt stets unter freiem Himmel. Der Nabu-Mann, der Geowissenschaften an der Universität Bremen studiert, geht am Rand des Teichs in die Hocke und deutet versteckt zwischen Gräsern auf ein dicht gesponnenes Netz. In der Mitte sitzt eine dickbäuchige Spinne, deren Färbung an ein anderes Lebewesen erinnert: nämlich die Wespe. „Seit ein paar Jahrzehnten wandert die Wespenspinne weiter nach Norden“, sagt Jonas Jäschke über die eigentlich im Mittelmeerraum beheimatete Art. Offenbar scheint sie sich aufgrund der klimatischen Veränderungen auch hierzulande wohlzufühlen. Um den Teich herum haben sich einige Exemplare niedergelassen. Jonas Jäschke weiß, dass Spinnen bei Menschen oft Objekt von Phobien sind, doch die Jäger seien äußerst wichtig, um alles im Gleichgewicht zu halten. „Sie haben zu Unrecht diesen Ruf“, sagt er. „Es kann größere Folgereaktionen haben, wenn die Zahl von Schlüsselarten abnimmt“, erinnert Jäschke an das Hauptanliegen der vom Nabu initiierten Zählung.
Auf der Liste steht auch die Blaue Holzbiene. Beim Bienensterben denken viele gleich automatisch an die Honigbiene, doch vor allem viele Wildbienen-Arten seien bedroht, sagt Jäschke. Ausreichend Nahrung könne der Mensch zur Verfügung stellen, wenn er Wiesenstücke weniger mäht oder zumindest Teile davon wild wachsen lassen würde. „Mit gar nichts tun kann man viel erreichen“, sagt Jäschke.
Als sich die Wolken allmählich voneinander wegbewegen, geht er den kurzen Waldpfad zum Böttcher Moor entlang. Das Wasser des Schlatts ist weit zurückgezogen, in der Mitte hat sich eine Insel gebildet, auf der Grünpflanzen aus dem Boden sprießen. Libellen zucken knapp über der Wasseroberfläche. Über die Binsen am Ufer fliegt ein Falter hinweg. „Die Vielfalt der Falter hat nach meinem persönlichen Empfinden abgenommen“, sagt Jäschke. Doch Distelfalter, so wie das beobachtete Exemplar am Ufer, habe er in diesem Jahr vermehrt gesehen. Sie legen weite Strecken zurück. „Der hat schon ein paar 1000 Kilometer auf dem Buckel“, bemerkt der Umweltschützer. Woran er es erkennt? „Die Distelfalter sehen dann ausgeblichen aus, haben oft kaputte, ausgefranste Flügelenden.“
Jäschke und seine Mitstreiter vom Nabu werden weiter ein Auge auf die Entwicklung der Arten haben. Für das Böttcher Moor, das aufgrund des Wasserstandes derzeit eines der Sorgenkinder der Naturschützer ist, kann er, zumindest was die Insektenpopulation angeht, sagen: „Ein neues internes Gutachten besagt, dass sich der Bestand gut entwickelt.“