An dem Ort, wo bald über 98 Morde verhandelt werden soll, erfuhren Besucher noch am vergangenen Wochenende, wie es gelingt, die Seele reinzuwaschen. In der Weser-Ems-Halle, obere Etage, großer Festsaal, ging es um Ruten, Pendel und die Kraft von Edelsteinen. Eine Esoterikmesse war zu Gast in Oldenburg. Die Heiler hatten die Abiturienten abgelöst, die im Sommer über den Parkettboden des Festsaals gerutscht waren, durch ihre Bierpfützen, hinein in ein Leben nach der Schulzeit. Mehrzweckhallen-Standard. Kramermarkt-Party, Zauber-Show, immer so weiter, ein Programm wie in jedem Jahr. Bis zum 30. Oktober.
Dann wird die Halle zur Nebenstelle des Landgerichts Oldenburg. Dann werden sie draußen, vor den Hallentüren ein Amtsschild anschlagen, darauf das Niedersachsenross. Drinnen, im großen Festsaal, werden sie einen Richtertisch aufbauen, Zeugenbänke, Plätze für Nebenkläger, Verteidiger, Journalisten. Dann, am 30. Oktober, beginnt in der Weser-Ems-Halle ein Prozess, für den selbst der größte Saal des Oldenburger Landgerichts viel zu klein wäre: der wohl größte Mordprozess in der jüngeren Historie der Bundesrepublik. Ein Jahrhundertprozess.
Im Festsaal, dort, wo sie sonst das Leben feiern, wird sich der ehemalige Krankenpfleger Niels Högel für den Tod von 98 Patienten an den Kliniken in Delmenhorst und Oldenburg verantworten müssen. Ein Prozess, mit so viel logistischem Aufwand verbunden, dass er das Gericht schon herausfordert, bevor er überhaupt begonnen hat. „Es wird in diesem Prozess vermutlich viele erste Male geben, so neu ist das auch für uns“, sagt Sebastian Bührmann. Dem Vorsitzenden Richter geht es darum, in den kommenden Monaten „soweit wie möglich Klarheit zu schaffen“. Ein Versuch der Wahrheitsfindung. „Wir können nur hoffen, so viel wie möglich ans Tageslicht zu bringen.“
Die Staatsanwälte werfen Högel vor, die 98 Menschen zu Tode gespritzt zu haben, heimtückisch, aus niedrigen Beweggründen. Kein bekannter Serienmörder in der Geschichte der Bundesrepublik hat mehr Menschenleben ausgelöscht. Wegen sechs Taten ist Högel bereits zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Lange bestreitet Högel die Taten, über Jahre schweigt er vor Gericht.
Fast 200 Plätze für die Öffentlichkeit
Erst gegen Ende des zweiten Prozesses, Anfang 2015, gesteht er dem Gerichtsgutachter Konstantin Karyofilis, häufiger getötet zu haben, als ihm vorgeworfen wird. Später, Ende Mai 2016, nach sechs Tagen Verhör, erahnen Ermittler dann die volle Dimension des Verbrechens. Die Beamten der Soko graben daraufhin auf etwa 70 Friedhöfen 134 Leichen aus, sogar in Polen und in der Türkei lässt die Staatsanwaltschaft verstorbene Patienten exhumieren. Rechtsmediziner untersuchen die Überreste der Leichen auf Spuren von Medikamenten, mit denen Högel getötet hat.
Inzwischen füllt all das Regalwände: die Akten der Ermittler, die Untersuchungen der Mediziner, die Gutachten zu den Exhumierungen. Am späten Montagnachmittag, bei einem Medientag zum Prozess, sieben Wochen vor Beginn, fehlen die Aktenschränke mit den Prozessordnern, insgesamt 15 Umzugskartons schwer, im großen Festsaal noch. Alles andere aber ist schon da. Vor einer vier Meter hohen Akustikwand steht der Richtertisch etwas erhöht, davor eine Holzblende. Das Parkett, glänzend, als wäre es frisch geölt worden, steht voller Stühle. Einige Hunderte sind es, alle sehen sie gleich aus, bordeauxrote Polster, silberner Rahmen. Links hinten die Journalistenplätze, 80 Sitze, rechts daneben der Bereich für die Öffentlichkeit, fast 200 Plätze. Davor werden die Nebenkläger sitzen, 119 sind es, rechts vorne die 17 Nebenklägervertreter.
Am Vormittag sind die Nebenkläger durch die Räume geführt worden, das Gericht hat ihnen gezeigt, wie sie die Weser-Ems-Halle zu den 23 Prozesstagen betreten. Es gibt einen Sondereingang für sie, er soll die Nebenkläger abschirmen vor dem restlichen Prozesstagtrubel, eine emotionale Schutzzone. Dieser Montag soll ein Testlauf sein, er soll Journalisten und Nebenklägern zeigen: In dieser 700 Quadratmeter großen Mehrzweckhalle, wo Menschen meist zusammenkommen, um ausgelassen zu sein, funktioniert auch eine so ernste Angelegenheit wie ein Mordprozess.
Denn neben dem logistischen Aufwand, dem Schleppen der Akten, dem Auf- und Abbau des ganzen Gerichtsaal-Provisoriums für je zwei Prozesstage hintereinander, ist das die vielleicht größte Aufgabe, vor der das Gericht stehen wird: Es wird dafür sorgen müssen, dass aus einer Festhalle ein würdevoller Gerichtssaal für ein Mordverfahren wird. Dass sich dieser Prozess, an dem so wenig gewöhnlich ist, zumindest etwas gewöhnlich anfühlt.
„Uns ist es sehr wichtig, zum Ausdruck zu bringen, wie ernst wir die Sache nehmen“, sagt Melanie Bitter, Sprecherin des Landgerichts. „Der Saal ist aber so neutral, dass man ihm die sonstigen Veranstaltungen nicht ansieht.“ Und überhaupt, sagt sie, gebe es keinen anderen Raum in Oldenburg, der so viel Platz biete. Keine andere Option, so sieht sie das, der Festsaal ist „alternativlos“. Sie benutzt dieses Wort später noch ein weiteres Mal, da geht es um den Sinn des Verfahrens.
Alternativloses Verfahren
Einige würden sie fragen, was der ganze Aufwand denn bringen soll, wenn der Angeklagte doch schon zu lebenslänglich bei besonderer Schwere der Schuld verurteilt worden sei. Wozu das alles? Die Staatsanwaltschaft hätte schließlich auch einzelne Mordverfahren einstellen können, Paragraf 154, „Teileinstellung bei mehreren Taten“. „Aber kann ich ernsthaft jemanden, der um seine Angehörigen trauert, einfach sagen, dass die Tat nicht mehr ins Gewicht fällt, dass sie egal ist?“ Für Bitter ist die Antwort klar. Sie glaubt, dieser Prozess ist „alternativlos“.
Der Ort des Geschehens, Weser-Ems-Halle, obere Etage, großer Festsaal, das sei am Ende nicht ausschlaggebend. „Ein Raum, in dem irgendwelche Bilder von Justitia hängen, würde dem Prozess nicht mehr Würde verleihen“, sagt Melanie Bitter. „Das ist die Aufgabe des Gerichts: Es wird die Würde mit sich tragen.“