Früher ist im Fußball bestimmt nicht alles besser gewesen – aber man hat als Zuschauer wenigstens verstanden, worum es geht. Robuste Mittelfeldspieler hießen noch Abräumer und nicht Sechser. Es gab keine Box-to-Box-Spieler. Trainer trugen noch Jogginganzüge. Und Handspiel war halt, wenn ein Spieler absichtlich die Hand benutzte.
Millionen Fans in Deutschland saßen bei der Weltmeisterschaft 1990 vor dem Fernseher, als ZDF-Kommentator Bela Rethy über den kolumbianischen Spielmacher mit der komischen Frisur sagte: „Das da vorn, was aussieht wie eine Klobürste, ist Valderrama.“ Auch wenn das nicht nett war: Alle wussten damit etwas anzufangen, schließlich hatten nur ausgewiesene Experten bis dahin von diesem Carlos Valderrama gehört.
Wer heute Fußball im Fernsehen schaut und den Trainern oder Fachleuten zuhört, dem wird schnell schwindelig. Der normale Fan weiß mit dem Gesprochenen oft nichts mehr anzufangen. Plötzlich gibt es Schienenspieler, abkippende Sechser und falsche Neuner. Im Mittelfeld wird nun gependelt, wo früher einer den anderen absicherte. Überall wimmelt es jetzt nur so von Zwischenräumen und Schnittstellen. Und der Ball – wenigstens der heißt noch so – muss heute vertikal ins letzte Drittel, am besten mit einer Steil-Klatsch-Kombination über einen Zielspieler. Und übrigens: Wenn eine Mannschaft ihren Matchplan umsetzt, dann kann sie sogar die Tiefe bedrohen. Alternativ kann sie ein Foul ziehen, auch das ist gerade in Mode – woran auch immer man dafür ziehen muss. Und mancher Fan bekommt einfach Hunger, wenn beim Abendspiel immer über Chipbälle gesprochen wird.
Eilts und die hupende Oma
Bei all diesem Fachchinesisch ist es angebracht, an Lukas Podolski zu erinnern. Der Weltmeister von 2014 war so etwas wie die lebende Schnittstelle des modernen Fußballs – zwischen den normalen Leuten und den aufgeblasenen Fußballerklärern. Einer seiner ersten Trainer bei den Profis des 1. FC Köln war ein gewisser Uwe Rapolder, der mit elitärer Arroganz in die Rolle eines Fußballreformers schlüpfte und von „Systemfußball“ sprach, den seine Mannschaft spiele. Die Medien waren begeistert. Systemfußball! Das klang nach der Entdeckung einer neuen Welt. Nur einer spielte dabei nicht mit: Podolski. Als die Siege weniger wurden, platzte dem 19-Jährigen im Fernsehen nach einer Niederlage der Kragen: „Es geht hier nicht um Systemfußball und anderen Drecksscheiß!“
Da wussten die Fans: Das ist einer von uns. Von Podolski stammt auch der großartige Satz: „So ist Fußball, manchmal gewinnt der Bessere.“
Spieler wie er erlangen auch deshalb Kultstatus, weil sie ganz normal reden. Wie auch Rudi Völler, Uwe Seeler, Franz Beckenbauer oder Dieter Eilts. Sie alle mussten nie den Schlaumeier spielen. Als ein Reporter mal Werders Eilts eine Frage im Konjunktiv stellte, kam die Antwort auf ostfriesische Art: „Wenn meine Oma ein Bus wäre, könnte sie hupen.“
Mit dem Pressing fing es an
So einfach kann es zugehen, wenn man sich und den Fußball nicht so wichtig nimmt. Doch die Wichtigtuer fielen in den vergangenen zehn Jahren über den Fußball her wie die Heuschrecken über die Steppe. Sie wurden sogar herangezüchtet. Denn als nach der Jahrtausendwende die Nachwuchsleistungszentren der Bundesligavereine entstanden, war das nicht nur eine Brutstätte für spätere Weltmeister. Hier wurde auch eine neue Generation von Trainern herangezogen, die seither mit Zwölfjährigen über dynamische Fünferketten fachsimpelt. Zeitweise fühlten sich ältere Trainer abgehängt, weil sie den mit Fachbegriffen überfrachteten jungen Spielern so manche Frage nicht mehr beantworten konnten. Fußball geriet zur Fremdsprache.
Mit dem Wort Pressing ging das los. Als Jürgen Klopp noch Trainer in Dortmund war, wurde dort mehr gepresst als in allen Kreißsälen des Landes, stellte das Kicker-Sportmagazin mal süffisant fest. Später kam Packing dazu, auch so eine Erscheinung, bei der gezählt wird, wie viele Gegner mit einem Pass überspielt werden. Beckenbauer oder Werders Johan Micoud spielten ständig solche Pässe, aber die Gegner blieben ungezählt. Mit unnützem Wissen hielt sich der Fußball früher nicht auf. Ziel war das Tor. Heute ist es in Mode, schlau erklären zu können, warum ein Tor nicht fiel.
Zurück zu Podolski. Als junger Profi sollte er einem Fachjournalisten ein Interview geben. Sein Spielerberater kam da mal lieber mit. Der Reporter stellte eine komplexe Frage über die systemischen Abläufe im Kölner Angriff. Podolski hörte andächtig zu. Dann schaute er zu seinem Berater und meinte: „Was hat der gefragt?“ Ja, auch die Medien haben einen Anteil daran, dass die Fußballsprache kompliziert wurde. In den ersten Jahren dieses Wandels spitzte sich das zu einer Art Klassenkampf zu. Hier die schlauen Rapolders, dort die Podolskis. Die Tageszeitung „Die Welt“ fragte im Herbst 2005 deshalb allen Ernstes: „Wie viel Intelligenz verträgt der Fußball?“
Dabei ist Lukas Podolski nicht dumm. Parallel zu seiner Karriere ist er ein erfolgreicher Unternehmer und Gastronom, seine sozialen Projekte sind in Köln fast so bedeutend wie der Dom. Aber er hat sich nie auf das Fachchinesisch eingelassen. Weil er den Fußball so liebt wie ein Fan.
Vielleicht sollte man eher fragen, wie viel vermeintliche Intelligenz dem Fußball schadet, wenn ein junger Zweitligatrainer wie Robert Klauß eine Sprache vorträgt, die „Trainerdeutsch“ genannt wird. In einen einzigen Satz packte Klauß Begriffe wie „Pressinglinie 1“, „ballferner Zehner“, „asymmetrischer linker Zehner“ und „abkippende Dreierkette“. Er verzog dabei keine Miene, es war sein blanker Ernst.
Daran erkennt man die totale Theoretisierung der deutschen Trainerausbildung. Diese Fußball-Lehrer und ihre Spieler leben in einer Blase, in der sie eine eigene Sprache sprechen. Die Fans sind daran nicht beteiligt. Sie bleiben außen vor.
Wie konnte Franz Beckenbauer als Trainer nur so viele Titel gewinnen, mit seinem einfachen „Geht raus und spielt Fußball“? Die Wahrheit ist: Auch Beckenbauer arbeitete akribisch, stundenlang analysierte er den Gegner und bereitete jeden Spieler top vor – aber niemals hätte er das zur Schau getragen. Heute ist es umgekehrt: Jüngere Trainer reden oft besser, als ihre Mannschaften spielen. Für die Profis der Generation Kimmich gilt das ebenso.
Abkippende Spieler gab es in den 80er- und 90er-Jahren eher am Vorabend der Spiele an der Hotelbar. Die Sprache des Fußballs war früher eher prollig, einfacher, aber sie schloss damit keinen aus. Sie passte zum Volkssport Fußball.
Was oft unterschätzt wird: Die einfache Sprache kann eine Wucht entfachen, die mehr bewirkt als ein schlauer Schachtelsatz. Es war Podolski, der das beste Beispiel dafür lieferte. Bei der Europameisterschaft 2016 tauchte ein Video auf, das schnell um die Welt ging: Es zeigte den Bundestrainer Jogi Löw in einer peinlichen Situation. Im Stress auf der Trainerbank war seine Hand unbewusst in die Hose gerutscht, danach schnüffelte er daran. Gerade Löw, diesem auf Anstand und Stil bedachten Mann, war das später zutiefst unangenehm. Auf der Pressekonferenz der Nationalmannschaft beendete Podolski alle Diskussionen über diese Szene mit einem einzigen Satz, der in die Geschichte einging. Er raunte der versammelten Presse zu: „80 Prozent von euch, und ich, kraulen sich auch mal an den Eiern – von daher ist das überhaupt kein Thema.“ Rumms! Die Schlagzeilen gehörten Podolski. Löw war aus dem Schneider. Es gab sogar Applaus der Journalisten. Ein Novum beim Nationalteam – was jedoch auch daran liegt, dass in dieser Blase selten etwas gesagt wird, was einen Applaus wert wäre.