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Essay Warum Typen wie Rudi Völler bei den Menschen so gut ankommen

Die Deutschen lieben den Fußball, aber nicht mehr die abgehobene Nationalmannschaft. Jetzt soll wieder Rudi Völler helfen, weil ihn das Volk mag. Seine Eigenschaften sind selten geworden in unserer Zeit...
12.03.2023, 10:43 Uhr
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Warum Typen wie Rudi Völler bei den Menschen so gut ankommen
Von Jean-Julien Beer

Es gibt viele Geschichten über Rudi Völler, den alle nur „Ruuudi“ nennen. Aber keine beschreibt seine Bodenständigkeit so schön wie das, was man sich aus einem Krankenhaus in seiner Geburtsstadt Hanau erzählt. Als Nationalstürmer war Völler bereits ein Weltstar, als er seinen kranken Vater Kurt besuchen wollte. Die Schwestern und Ärzte wussten natürlich, wer da gleich auf ihre Station kommen würde. Nervosität und Aufregung machten sich breit. Und dann kam der prominente Besuch, klopfte zaghaft an die Tür und stellte sich erst einmal vor: „Guten Tag, mein Name ist Rudi Völler. Und ich möchte gerne zu meinem Vater.“

Sie konnten nicht glauben, wie normal er war. Die ersten Patienten sprangen aus den Betten, als sie Völler hörten. Manche applaudierten, andere weinten vor Rührung, weil Völler ihnen gute Besserung wünschte. Freude und Begeisterung prägten den Rest des Tages auf Station. Rudi Völler – ein Heilsbringer im besten Sinne.

Genau das ist die zweite große Rolle seines Lebens: ein Heilsbringer sein. Nach einer Karriere als Spieler, Trainer und Funktionär im Spitzenfußball hatte sich Völler, heute 62, gerade in einen ruhigeren Lebensabschnitt verabschiedet. Doch der Bedeutungsverlust der Nationalmannschaft sorgte für ein abruptes Ende seines Ruhestandes. Als Sportdirektor des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) soll Völler nun wieder für Freude und Begeisterung sorgen. Nach zwei WM-Debakeln verweigern die Fans der Mannschaft die Zuneigung, die TV-Quoten bei Länderspielen rauschten in den Keller, und selbst kleine Stadien werden bei dieser Truppe selten voll. Die Spieler haben ein gewaltiges Image-Problem: Sie gelten als zu wenig talentiert oder als abgehoben. In den schlimmsten Fällen beides.

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Nur ein Jahr vor der Europameisterschaft 2024 in Deutschland ist das für den DFB der GAU – denn durch die Misserfolge der Nationalmannschaft bei den jüngsten Turnieren fehlen Einnahmen, dem größten Sportfachverband der Welt geht das Geld aus. Die EM muss ein Erfolg werden.

Dass wieder Völler helfen soll, ist nur logisch. Wer sonst könnte die Fans versöhnen? Früher erledigte Franz Beckenbauer das mit der ihm eigenen Lässigkeit. Aber selbst den Kaiser hat „Ruuudi“ auf der Beliebtheitsskala eingeholt. Niemand in der Fußballbranche kennt Völler besser als Reiner Calmund, sein enger Freund. Der erklärt: „Die Normalität im Umgang, diese Freundlichkeit zu den Menschen – das machte Rudi zu dem Idol, das er bis heute ist.“

Völler fällt damit positiv auf in einer Welt der Superegos, in der Fußballprofis schon mit dem Learjet zum Einkaufen flogen (Mesut Özil), mit dem Hubschrauber zum Training (Jens Lehmann) oder mit dem Porsche frühmorgens zur Miss Belgien (Emile Mpenza, der Wagen landete in der Leitplanke, der Spieler blieb unangetastet). Es ist auch eine Welt, in der protzige Fußball-Millionäre Goldstaub übers Steak streuen lassen (und das waren leider viele).

Seltene Eigenschaften in der heutigen Zeit

Das ist nicht Völlers Welt. Menschen wie er kommen immer dann ins Spiel, wenn die Dinge aus dem Ruder laufen. Dass er jetzt mit anpacken soll, ist sogar eine Wiederholung: Schon im Jahr 2000 musste Völler bei der Nationalmannschaft plötzlich ran, damals wie heute grübelte eine Taskforce über die schlimmen Zustände des Teams. Zu jener Zeit sollte Christoph Daum Bundestrainer werden, bevor er mit seinem Koks aufflog. Völler war nur zufällig anwesend, als die Taskforce in einer Kölner Villa tagte. Heute, nach dem Debakel in Katar, gehörte er offiziell zu dieser Runde. Und in beiden Fällen sahen die Anwesenden den Heilsbringer unvermittelt vor sich: „Rudi, warum machst du es nicht?“ Es gab und gibt ja keinen, der beim Volk besser ankommt.

Rudi Völler, den nur seine Mutter Rudolf nannte, hat Eigenschaften, die so selten wie wertvoll sind in unserer problemüberladenen Zeit. Er sagt nicht Nein, wenn Hilfe gebraucht wird, er duckt sich nicht weg. Aber er ist keiner, der immer Ja sagt. Zugleich ist er kompetent, ohne dies durch pseudoschlaue Worte zur Schau stellen zu müssen. Auch dafür lieben ihn die Leute. Er wurde ohne soziale Medien weltbekannt. Der größte Hanauer seit den Gebrüdern Grimm. Als er 2000 die Nationalmannschaft retten sollte, als Teamchef, schrieb der Tagesspiegel: „Er soll den Nationalspielern wieder Benimm und Stolz beizubringen.“ Mehr als 20 Jahre später hat sich an der Aufgabenstellung nichts geändert. Der „Ruuudi“ ist immer noch der Kompass für Bodenständigkeit und Sympathie.

Einen wie ihn möchte man überall hinschicken, wo etwas weniger mehr sein könnte. Beim DFB und der Nationalmannschaft ist er da auf jeden Fall richtig. Er ist ein Anti-Bierhoff, das muss man wissen. Wo Oliver Bierhoff als DFB-Manager Vermarktungsstrategien und Wohlfühloasen konzipierte, tickt sein Nachfolger Völler anders. Beide waren sich nie grün. Als Bierhoff von den Klubs mal schöneren Fußball forderte, watschte ihn Völler im Namen der Liga ab: „Brasilianische Spielweise einfordern, aber selbst nur Füße aus Malta gehabt haben, das geht nicht.“

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Einer wie Völler hätte Bierhoffs „Die Mannschaft“-Slogan persönlich vom Teambus gekratzt und damit den Fans einen Gefallen getan. Man hätte ihn gerne erlebt, als die Nationalspieler nach einer Partie in München die Polizei beauftragen wollten, ihnen Sushi in die Kabine zu liefern. Die Polizei reagierte sauer, Bierhoff verstand die Aufregung nicht. Bei Völler hätten die Spieler ihre Stäbchen in beide Hände nehmen und das Weite suchen können.

„So ein Scheiß!“ fauchte er als Teamchef live im Fernsehen, als der Experte Günter Netzer ein Spiel der DFB-Elf kritisierte. Daraus entwickelte sich die legendäre Weißbier-Wutrede, in der Völler dem Moderator Waldi Hartmann unterstellte, angetrunken im warmen Studio zu sitzen. Die Leute lieben ihn auch für solche Wutausbrüche, zumal sie immer fair enden. „Das mit dem Weizenbier nehme ich zurück“, gab er Hartmann einen freundschaftlichen Klaps, „aber den Rest nicht!“

Rudi Völler blieb ein Star zum Anfassen

Völler steht für klare Kante. In wenigen Wochen als Sportdirektor hat er sein Revier schon abgesteckt, die Innenministerin Nancy Faeser wegen des Tragens der One-Love-Binde gerüffelt, im Berliner Sportausschuss die AfD zurechtgewiesen und kurzerhand sogar den Weltmeister Argentinien in Reichweite gezogen: „Mir braucht keiner zu erzählen, dass die besser sind als wir.“ Dabei hatte die DFB-Elf seit dem Aus in Katar noch keinen Ballkontakt.

Aber sie hat jetzt einen Rudi Völler. Der wird auch Serge Gnabry für dessen Ausflug zur Pariser Fashion Week noch etwas sagen. Denn nichts mag Völler weniger als Geltungssucht. Deshalb richtete er schon dem Dampfplauderer Lothar Matthäus während der WM 1990 genervt aus: „Der soll das alles seiner Klobrille erzählen.“

So war er immer. Ein Arbeiterkind aus dem berüchtigten Stadtteil Lamboy. In einer kleinen Wohnung im ersten Stock kam er zur Welt. Die Hebamme kam mit einem Moped. Die Mutter war Näherin, der Vater Lagermeister. Unten auf der Straße kickte er als Kind. Geld für Fußballschuhe gab es nicht. Er schoss als Bub trotzdem 40, manchmal 50 Tore pro Saison im Arbeiterverein 1860 Hanau. Einen Wechsel zu reicheren Nachbarvereinen lehnte er lange ab. Noch heute sagt er: „Ich komme aus einer Arbeiterfamilie. Da bin ich auch stolz drauf.“

Über Bremen, Rom und Marseille wurde er zum Star, blieb aber einer zum Anfassen. Die Spieler werden sich wundern, wie geerdet, aber beliebt ihr Chef ist. Die Leute sehnen sich offensichtlich danach: weniger Angeber, mehr „Ruuudis“. Doch leider stimmt das, was in dem Hit besungen wird, den Völler partout nicht leiden kann: „Es gibt nur ein Rudi Völler…“

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