Da kommt er wieder mit Macht in die Wohnzimmer und Biergärten. König Fußball übernimmt. Er lockt Millionen vor die Bildschirme, er greift in ganz private Terminplanungen ein, er ist wirklich sehr mächtig. Die Frage, wie sich die DFB-Auswahl schlägt bei der WM in Russland, ist eine sehr spannende Frage, für manch einen ist sie sogar die spannendste Frage der nächsten vier Wochen.
Zumindest aber ist sie so interessant, dass sie selbst von Menschen gestellt oder auch leidenschaftlich besprochen wird, deren Sport-Begeisterung eher im Standby-Modus läuft. Faszination WM, Faszination Fußball: Ist seine Anziehungskraft unendlich groß? Durch nichts zu erschüttern? Fast möchte man meinen, dass es so ist.
Die Erschütterungen sind ja deutlich sichtbar. Im Fußball-Weltverband Fifa haben sich schon so viele Korruptionsskandale abgespielt, dass nicht zu knapp Vergleiche mit der Mafia angestellt wurden. Die jetzige WM findet in einem Land statt, das in die Ukraine einmarschiert ist, in Syrien bombardiert und im eigenen Land Andersdenkende und Homosexuelle drangsaliert.
Die WM danach findet in Katar statt, aller Kritik am Umgang des Landes mit Menschenrechten zum Trotz. Sie findet im Winter statt, was den Fußballfans in knapp 90 Jahren WM-Geschichte auch noch nicht zugemutet wurde. Und eine – sportlich eher verwässernde und fragwürdige – Aufblähung des Turniers wurde jetzt gerade noch so verhindert.
Das Sommermärchen 2006 strahlt nicht mehr
Die kommt dann aber vier Jahre später. 48 Mannschaften statt 32. Der Qualifikationsmodus für die großen Turniere wurde von den Verbänden so verändert, dass nur noch sehr Eingeweihte den Überblick behalten haben. Oder wissen alle genau Bescheid, wie das demnächst läuft mit diesem neuen Format namens Nations League?
Und was ist, wenn man die Geißelung der Vergabe an Russland und Katar mal vergisst? Mal ins eigene Land schaut? Liegt es nur an der typischen deutschen Selbstzerfleischung, dass das Sommermärchen rückblickend nur noch in Verbindung mit der Sommermärchen-Affäre betrachtet werden kann? Ganz so hell strahlt das tolle Turnier von 2006 ja in der Nachbetrachtung nicht mehr. Der tolle Chef des Sommermärchens, Fußball-Kaiser Franz Beckenbauer, ist kein Strahlemann mehr.
Wenigstens gefühlt ist aus König Fußball zu viel König und zu wenig Fußball geworden. Der Vorwurf, mehr Politik und Geschäft statt Sport zu sein, lässt sich immer schwerer wegdiskutieren. Die Legende, dass es sauberer Sport ist, in dem Doping nichts bringen würde, lässt sich sowieso kaum noch aufrechterhalten. Stars wie Ronaldo und Messi sind keine Saubermänner mehr, ihre Steueraffären lassen ein lupenreines Sauber-Image nicht zu.
Es gibt unzählige Investoren, Lobbyisten oder Agenten, die den Fußball zunächst mal ganz nüchtern als Ware sehen. Sie pumpen viel Geld in den Fußball, sie wollen viel Geld mit dem Fußball verdienen. Oder indirekt über die Plattform Fußball. In etlichen nationalen Ligen sind längst Tendenzen sichtbar von einer Entfremdung zwischen einem durchkommerzialisierten Hochglanzprodukt und seiner Fan-Basis.
Zum Beispiel äußerte sich das zuletzt im massenhaften Protest oder Boykott von Montagsspielen. Zudem ist der Fußball, auch durch seine mediale Ausschlachtung, überfrachtet worden. Man erwartet und verlangt zu viel von ihm. Özil soll gefälligst die deutsche Nationalhymne mitsingen. Und seit dem Erdogan-Foto gehört er für viele gleich gar nicht mehr in die deutsche Nationalmannschaft.
Den Fehltritt einzuordnen oder gar zu relativieren, steht bei vielen deutlich tiefer im Kurs als die Radikal-Reaktion. Schon muss die Kanzlerin auf den Plan treten und appellieren, Özil und Gündogan bitte nicht auszupfeifen. Ja, die Magnetwirkung einer Fußball-WM ist immer noch da. Und es ist auch sehr okay so, dass das so ist. Wer sich auf die Fifa-Spiele in diesem vielen als suspekt geltenden Russland freut, auf all die Dramen, Überraschungen, Triumphe und Tragödien, der ist deswegen ja kein Naivling ohne anständige Haltung. Das wäre Humbug und unangebrachtes Moralisieren.
Das ändert aber nichts daran, dass die Magnetwirkung des Fußballs vielleicht doch nicht unendlich groß ist. So unausweichlich wie ein Naturgesetz stellt sie sich wohl doch nicht ein. Man folgt dem König Fußball noch, aber mancher wird dabei nicht mehr so folgsam sein, wie er es schon einmal war. Und das liegt womöglich nicht nur daran, dass er früher ein Kind war und jetzt eben nicht mehr.