Düsseldorf. Vor nicht mal einem Jahr gab es in Köln einen besonderen Termin. Weil in der Millionenstadt am Rhein im Jahr 2024 Spiele der Handball- und der Fußball-Europameisterschaft ausgetragen werden, gestalteten die Verkehrsbetriebe eine sportlich bemalte Straßenbahn – und luden die beiden Bundestrainer zur feierlichen Einweihung und Jungfernfahrt ein: Alfred Gislason und Hansi Flick. Heute sind nur noch zwei der drei Hauptdarsteller von damals im Einsatz, der Handballtrainer und die Straßenbahn. Flick wurde längst entlassen, er hatte unter dem wachsenden Druck des Heim-Turniers die Kontrolle über sein Tun verloren.
Dass Gislason noch im Amt ist und am Mittwoch mit dem Auftaktspiel gegen die Schweiz (20.45 Uhr in Düsseldorf) in die EM startet, belegt, dass der 64-jährige Isländer zuletzt eine Menge richtig gemacht hat und die Erwartungen des Deutschen Handball-Bundes (DHB) nicht enttäuschte.
Zu den kniffligeren Fällen, die Gislason zu moderieren hat, zählt der Umgang mit Spielmacher Juri Knorr. Der 23 Jahre alte gebürtige Flensburger zählt zu den Lieblingen des Publikums, weil er neben seinen Wurfvarianten und starken Zuspielen auf die Kreisläufer auch einen gewissen Schuss Verrücktheit mitbringt, der an guten Tagen als mutiges Spiel durchgeht. An schlechteren Tagen wird ihm das als zu riskant ausgelegt, zumal er sich auch in engen Spielsituationen nicht scheut, gewagte Bälle zu spielen.
Schwierige Zeit in der Pandemie
Die Heim-Europameisterschaft könnte für Knorr den Weg in die internationale Spitzenklasse ebnen, zumal der Trend im Nationalteam für den 1,92 großen Rückraumspieler positiv verläuft. „Man vergisst manchmal, wie jung er noch ist“, sagt Gislason, „er hat eine sehr gute Entwicklung genommen, auch wenn es für seinen Verein Rhein-Neckar Löwen in der Bundesliga zuletzt nicht gut lief.“ Jedoch stört es den Bundestrainer, welch enorme Aufmerksamkeit Knorr in der Öffentlichkeit auf sich zieht. „Die vielen Fragen nach Knorr nerven ein bisschen“, sagte Gislason während der Vorbereitung auf die EM. Auch wenn der Trainer verstehen kann, dass der Spielmacher und vielfache Torschütze automatisch eine höhere Aufmerksamkeit auf sich zieht. Gislason: „Aber dadurch stehen andere gute und wichtige Spieler nicht so im Rampenlicht.“
Fakt ist aber: Mit diesem Klassemann im Rückraum ist es für die Nationalmannschaft einfacher, erfolgreichen Handball zu spielen. Gislason hatte mit seiner natürlichen Autorität und der väterlichen Art schon immer ein Händchen für die Entwicklung junger Spieler, bei Knorr kann man das gut verfolgen. Gislason hat das Ausnahmetalent nicht fallen lassen, als das Spiel mal zu riskant wurde. Und er hat ihn trotz Kritik in weiten Teilen der Öffentlichkeit wieder nominiert, als die Pandemie vorbei war.
Die Coronazeit war schwierig für Knorr und seinen Stellenwert im Nationalteam. Erst erwischte ihn der Virus selbst, und zwar „stärker als andere in meinem Alter“, wie er rückblickend sagt. Dann wurde sein Impfstatus zum Sportpolitikum, weil er die Europameisterschaft 2022 verpasste. Er erfüllte die Voraussetzungen für die damals geltende 2G+-Regelung nicht. „Das sind Erfahrungen, die ich niemandem so wünsche“, erklärt Knorr heute, „das war eine schwierige Zeit und eine krasse Erfahrung. Nicht viele erleben das im Alter von 21 Jahren, teilweise bundesweit so kritisiert zu werden.“ Umgehauen hat ihn diese Wucht nicht, er stand schon bei der Weltmeisterschaft 2023 wieder auf dem Feld und war mitverantwortlich für den guten fünften Platz. „An solchen Erfahrungen wächst man“, betont Knorr, „auch jetzt werden bei dieser EM wieder neue Erfahrungen auf mich zukommen, an denen ich wachse.“
Bei der EM kann er einen weiteren Schritt aus dem Schatten seines Vaters machen, der über 80 Länderspiele für Deutschland absolvierte und in den 90er-Jahren viermal Deutscher Meister war. Der Junior hat schon jetzt mehr als 40 Länderspiele hinter sich. Die Vorfreude auf das Heim-Turnier ist Juri Knorr deutlich anzumerken. „Es wäre schön, wenn wir viele Leute begeistern könnten, die im Januar vielleicht mehr Handball schauen als sonst“, meint er, „diese Leute sollen am Ende sagen: Die deutschen Jungs haben Spaß gemacht. Wir wollen den Fans schöne Momente schenken.“ Mit dem Spielplan hat er sich schon über die Gruppenphase hinaus beschäftigt: „Wenn man sieht, welche Gegner im Turnierverlauf auf uns zukommen könnten, wäre ein Weiterkommen bis ins Halbfinale schon eine Sensation. Das wäre etwas ganz Besonderes.“
Knorr wirkt deutlich gereift. „Ich habe die letzten Jahre gelernt, dass der Beruf Profi-Handballer sehr bewegt sein kann, dass es Höhen und Tiefen gibt. Ich probiere, mit mir im Reinen zu sein und nicht zu viel darauf zu geben, was über mich berichtet wird.“ So emotional wie sein Vater wirkt er nicht. „Ich trage verschiedene Anteile von meinem Vater in mir, von meiner Mutter aber auch, die vielleicht mehr der nachdenklichere Typ ist. Sicherlich bin ich jemand, der manchmal ein bisschen mehr nachdenkt – nennen wir es reflektiert.“ Er versuche, „nicht jedes schlechte Handballspiel als Weltuntergang“ zu empfinden, denn: „Mit etwas Weitblick sollte jeder wissen, dass es in der Welt wichtigere Dinge gibt als ein Handballspiel, das im Endeffekt nur Unterhaltung ist. Wir retten keine Leben, wir spielen nur Handball.“
Er will Erfolg haben, aber auch Spaß. „Ich will auf dem Spielfeld ich selbst sein“, so nennt er das, „ich bin zufrieden mit mir, wenn ich fünf Bälle verwerfe und drei technische Fehler mache und trotzdem sagen kann: Ich hatte Spaß. Das will ich mir bewahren.“