Hoch oben in Brunsbüttel, eine knappe Stunde nördlich von Hamburg, ähnelt die Landschaft ein wenig den einsamen Weiten Islands. Doch Handball-Nationaltrainer Alfred Gislason soll diesen Trainingsstandort nicht aus Liebe zu seiner alten Heimat ausgesucht haben. Vielmehr sei es eine bewusste Entscheidung des Deutschen Handball-Bundes (DHB) gewesen, das Quartier bis zum Start der Heim-Europameisterschaft in dieser Abgeschiedenheit zu beziehen, betont Sportvorstand Axel Kromer: "Hier oben können wir ganz in Ruhe arbeiten, bevor es beim Turnier in die großen Städte und die großen Arenen geht." In den nächsten drei Wochen werden sich die deutschen Handballer dann zwischen Köln, Düsseldorf und Berlin bewegen. "Alfred Gislason braucht diese Abgeschiedenheit eigentlich nicht", meint Kromer, "ihm genügt eine Halle mit zwei Toren und ein Kraftraum, egal, wo das ist."
Für die Arbeit des Trainers ist die Abgeschiedenheit aber ein Vorteil. Denn wenige Tage vor dem ersten EM-Spiel gegen die Schweiz (Mittwoch, 10. Januar, 20.45 Uhr in Düsseldorf) gibt es sportlich noch einiges zu tun, das wurde beim Testspiel am Donnerstag in Flensburg gegen Portugal deutlich. Zwar gewann die deutsche Mannschaft in letzter Minute mit 34:33 durch einen Treffer des Hannoveraner U21-Weltmeisters Renars Uscins. Wenn aber Torwart-Routinier Andreas Wolff nicht den letzten Wurf der Portugiesen kurz vor dem Schlusspfiff pariert hätte, wäre die vorletzte Generalprobe verpatzt gewesen. "Wir müssen noch einiges korrigieren, das ist klar", sagt Gislason und erklärte das seinen Spielern am Freitag mit einer intensiven Videoanalyse: "In der Abwehr standen wir in der ersten Halbzeit sehr gut, inklusive der Torhüter-Leistung war das gut. In der zweiten Halbzeit standen wir zu weit auseinander, darunter hat auch die Torhüterleistung dann gelitten."
Schon an diesem Samstag gibt es die Chance, es besser zu machen und Selbstvertrauen zu tanken: Das zweite Spiel gegen Portugal (18 Uhr in Kiel) ist der letzte Test vor dem Heimturnier. "In diesem Spiel in Kiel sollten wir es dann schon besser machen", fordert Kapitän Johannes Golla, dem insgesamt noch die Konstanz im Auftritt der deutschen Mannschaft fehlt: "In guten Phasen schaffen wir es, nahezu perfekt zu spielen. Aber in Phasen, wo es nicht optimal läuft, haben wir zu viele Probleme."
Die Mannschaft sucht noch ihre EM-Form. Es geht dabei nicht nur um das Deckungsverhalten, das im Idealfall den Torhütern das Leben einfacher macht. Es geht auch um Flexibilität und Durchschlagskraft im Angriff, um einen Gegner wie Portugal im Ergebnis deutlicher zu distanzieren. Was Mut macht: Abseits des Spielfeldes wächst die junge Mannschaft in der norddeutschen Abgeschiedenheit offenbar gut zusammen. "Wir haben ein paar coole Typen dabei", berichtet der Gummersbacher Julian Köster, der mit erst 23 Jahren bereits ein Eckpfeiler im Mittelblock der Deckung ist, "wir funktionieren außerhalb des Platzes schon sehr gut, das wird man auch in den Spielen merken."
Die jungen Wilden des deutschen Handballs werden von ein paar erfahrenen Routiniers geführt. Dazu zählt der Europameister von 2016 im Tor, Andreas Wolff. Der 32-Jährige ist rechtzeitig von einem schweren Bandscheibenvorfall genesen. Zu einem wie ihm schauen die jüngeren Nationalspieler im Training und im Spiel auf. Dieser Rolle ist er sich bewusst, dennoch will Wolff nicht zu viel auf die jüngeren Kollegen einreden: "So sollen ihre eigenen Erfahrungen machen und es genießen."
Der Grundstein für eine möglichst erfolgreiche EM wird durch die Videoanalysen des akribisch arbeitenden Alfred Gislason gelegt – und durch intensive Trainingseinheiten. Nach ein paar gemeinsamen Einheiten Ende des Jahres in Frankfurt sind die Nationalspieler seit Jahresbeginn in Brunsbüttel damit beschäftigt, sich den Feinschliff für das große Turnier zu holen. Die ersten Eindrücke stimmen den Bundestrainer positiv: "Bis jetzt ist die Leistung im Training wirklich überragend, der Einsatz der Jungs und die Stimmung sind phänomenal gut."
Bei der Frage nach dem Ziel der Mannschaft gibt es jedoch auch wenige Tage vor dem Start noch keine klare Linie. Gislason selbst mag die Frage schon nicht mehr hören, "sie wird mir seit Februar gestellt". Natürlich, so formuliert es der 64-jährige Isländer, "träumen wir alle davon, weit zu kommen. Die Jungs sind alle Profisportler, die wollen immer gewinnen." Zuerst einmal müsse die Mannschaft aber die Gruppenphase überstehen, da geht es neben der Schweiz noch gegen Nordmazedonien und den Turnierfavoriten Frankreich. Gislason: "Wir wissen, das wir nicht zu den ganz großen Favoriten gezählt werden. Aber wir werden oft gleich dahinter genannt, als eine Mannschaft, die etwas reißen könnte." Ganz sicher habe der junge deutsche Kader eine gute Perspektive für die Zukunft, der größte Nachteil bestehe aber eben auch in dieser Altersstruktur: "Wir haben nicht die ganz große Erfahrung."
Deshalb kommt es besonders auf Führungsspieler wie Golla an. Der Kapitän und Handballer des Jahres 2022 sagt: "Der Traum vom Halbfinale ist da. Wir reisen zu so einem Turnier, um etwas zu erreichen. Müssen aber anerkennen, dass andere Nationen uns noch etwas voraus haben." Deshalb müsse man den zweiten Test gegen Portugal nutzen, um Rückenwind für die EM zu bekommen.