Nicht nur wegen der guten Stimmung bleibt das Länderspiel der Handball-Nationalmannschaft im Januar in Bremen in Erinnerung, sondern auch wegen eines Ereignisses am Rande. Während die knapp 9000 Zuschauer in der ÖVB-Arena die Spieler trotz einer 30:31-Niederlage gegen Island feierten, stutzte Trainer Alfred Gislason in einer Ecke der Halle den gehypten Spielmacher Juri Knorr (22) auf Normalmaß. „Knorr macht unglaublich teure Fehler“, kritisierte Gislason am ZDF-Mikrofon, nachdem der Jungstar mit überheblichen Abspielen die Niederlage mitverschuldet hatte.
Der erfahrene Gislason, 63 Jahre alt und mit 31 Titeln dekoriert, hat das Fördern junger Spieler zu seiner zentralen Aufgabe gemacht – auch wegen der Europameisterschaft 2024 in Deutschland. Dann soll eine junge, aber schlagkräftige Mannschaft mindestens bis ins Halbfinale vorstoßen und im besten Fall um den Titel mitspielen. „Es macht mir riesigen Spaß, mit jungen Menschen zu arbeiten“, betont Gislason im Gespräch mit dem WESER-KURIER, „man fördert einen jungen Spieler und sieht seine Entwicklung. Alles, was man macht, hat einen Effekt. Die Entwicklung dieser Jungs zu sehen, macht sehr stolz.“
Das bedeute aber nicht, diese Jungs auf dem Weg zur Weltspitze in Watte zu packen. „Ich glaube, meine Kritik ist nie unfair. Die Wahrheit ist das, was allen am besten hilft“, meint Gislason – der im Gegensatz zu anderen Trainern klare Worte bevorzugt: „Man kann über vieles diskutieren bei einem Spiel, aber viele Dinge sind einfach auch offensichtlich. Wenn ein junger Spieler wie Knorr Fehler macht, und man als Trainer dann nichts sagt – ich glaube nicht, dass er dann so schnell vorankommen würde.“
In der Tat spielte Knorr danach als Stammspieler eine torreiche Weltmeisterschaft. Fordern und Fördern - das alles gehört zum Plan des Nationaltrainers, aus Top-Talenten echte Siegertypen zu formen. „Junge Spieler dürfen nach Fehlern nicht denken: Alles ist gut, ich kann machen, was ich will“, erklärt er, „es ist meine Pflicht, dann etwas zu sagen. Sonst wird das nie erfolgreich. Es kann nicht sein, dass ich der Presse nur sage: Der Junge ist jung und darf das machen. Nach Fehlern wäre es das falsche Zeichen.“
Zumal Spieler wie Knorr, im Liga-Alltag beim Bundesliga-Spitzenreiter Rhein-Neckar Löwen als feste Größe etabliert, schnell aus Fehlern lernen würden: „Beim nächsten Mal macht er das dann seltener. Er hat danach eine sehr gute WM gespielt, aber insgesamt auch da noch zu viele Fehler gemacht. Aber Juri ist auf dem besten Weg.“
Am Sonntag könnte der Jungstar das erneut vor heimischer Kulisse zeigen, wenn sein lädierter Oberschenkel es zulässt. Im zweiten Länderspiel dieser Woche geht es in Hamburg gegen Weltmeister Dänemark (14.15 Uhr/live im ZDF). Das erste Duell im EHF Euro Cup verlor das deutsche Team am Donnerstag mit 23:30 in Dänemark.
Ein weiteres Beispiel für Gislasons Arbeit mit jungen Spielern ist Julian Köster (22). Den Zwei-Meter-Mann hatte der Trainer vor vier Jahren bei der WM der U19-Junioren gesehen, wo Köster bester Abwehrspieler des Turniers wurde. Gislason führt verschiedene Listen mit jungen Spielern, die in den nächsten Jahren das Gesicht des deutschen Teams prägen könnten. Er sichtet auch jüngere Jahrgänge. Den Namen Köster hatte er dick unterstrichen – suchte ihn später im Herrenbereich aber vergebens in der Bundesliga. Er fand ihn auf der Ersatzbank des Zweitligisten TSV Bayer Dormagen wieder. Mit Blick auf die Heim-EM 2024 wollte er diesen Spieler auf ein Topniveau bringen und fädelte einen Wechsel des Rechtshänders zum VfL Gummersbach ein, für den Köster heute erfolgreich in der Bundesliga spielt. Bei der Weltmeisterschaft war der Rückraumspieler in der Abwehr bereits eine wichtige Stütze.
Gislason baut die Nationalmannschaft Stück für Stück wie ein Puzzle zusammen und ist überzeugt, dass die erfahrenen Spieler wie Torwart Andreas Wolff genau das meinen, wenn sie von seinem Feuer für das DHB-Team schwärmen. „Ich glaube, die Spieler spüren meine Freude über die Entwicklung des ein oder anderen“, sagt der Nationaltrainer, „wir haben in den vergangenen Jahren viele Spieler eingebaut, die fast schon irgendwo verschwunden waren. Jetzt sind sie auf einem guten Weg zu Weltklassespielern. Es macht mir Spaß, an diesem Weg mitzuarbeiten.“
Wegen der vielen wichtigen Turniere in den nächsten Jahren wurde vom Deutschen Handballbund (DHB) das „Jahrzehnt des Handballs“ ausgerufen. Gislasons Vertrag gilt nur bis 2024. Die Frage, wie viele Jahre des Jahrzehnts er mitgehen möchte, beantwortet er so: „Natürlich muss man als Bundestrainer so arbeiten, als würde man zehn Jahre dabei sein. Man plant den Kader immer fünf oder sechs Jahre im Voraus und sichtet die entsprechenden Talente. Ich plane so, als würde ich nach der EM 2024 auch noch die WM machen.“ Letztlich werden aber, wie immer, auch die Ergebnisse beim nächsten Turnier Einfluss haben. Gislason: „Im Sport kann sich das schnell ändern. Deshalb mache ich mir keinen großen Kopf darüber, wie lange ich dabeibleibe. Viel wichtiger ist mir, dass ich etwas hinterlassen kann, womit ein Nachfolger was anfangen kann.“
Deshalb lautet sein nächstes Projekt: die Abwehr stärken. „Da können wir noch viel besser werden“, weiß der Trainer, der für die Heim-EM auf eine größere Auswahl an Topspielern für die Defensive hofft. Zuletzt bei der WM lag die Last auf dem deutschen Innenblock mit Köster und Johannes Golla (SG Flensburg-Handewitt). Beide konnten mangels Alternativen kaum pausieren. Für die Heim-EM wäre ein Comeback der Topkräfte Hendrik Pekeler (THW Kiel) oder Sebastian Heymann (Göppingen) hilfreich, um zu einem Titelkandidaten zu werden. Gislason ist zuversichtlich: „Wir haben da einige Spieler, die noch dazukommen können und die wirklich sehr gut sind. Wenn wir in der Abwehr unsere besten Spieler aufbieten könnten, hätten wir viel größere Chancen auf Erfolg.“
Sicher wird er auch seine Listen noch einmal durchforsten und schauen, wen er notfalls im Crashkurs zum DHB-Star formen kann. Wie bei Knorr und Köster. Denn sein Ziel ist klar: „Ich will einen Titel mit Deutschland gewinnen. Das ist mein Traum.“ Als Vaterfigur für die jungen Nationalspieler will Gislason aber nicht gesehen werden. „Diese Rolle sei den Eltern gegönnt. Mich macht es einfach stolz als Trainer, wie die Jungs sich entwickeln.“