Mit 19 Spielern, aber ohne eine Zielvorgabe geht Handball-Bundestrainer Alfred Gislason die mit Spannung erwartete Heim-Europameisterschaft im Januar an. „Wir haben vor diesem Turnier schon viel über Träume gesprochen. Aber das bringt uns jetzt nicht weiter“, sagte Gislason knapp drei Wochen vor dem Turnierstart, „als Trainer will ich zunächst einmal das erste Spiel gewinnen. Wir werden uns bei dieser Europameisterschaft auf jedes einzelne Spiel konzentrieren müssen und uns im Turnierverlauf hoffentlich steigern.“
Was banal klingt, hat durchaus seine Berechtigung: Denn schon das erste Spiel am 10. Januar in Düsseldorf wird ein außergewöhnliches Spektakel, weil mehr als 50.000 Zuschauer in der Merkur-Arena gegen die Schweiz für eine Weltrekord-Kulisse sorgen werden. Von früheren Turnieren im eigenen Land wissen die Verantwortlichen des Deutschen Handball-Bundes (DHB) um Sportvorstand Axel Kromer, „welche Mega-Euphorie das deutsche Sportpublikum entfachen kann“. Das sollte im besten Fall beflügeln, wie beim Gewinn der Weltmeisterschaft 2007 in Köln. In jedem Fall bedeutet das gesteigerte Interesse aber auch eine Menge Druck für die Spieler.
Entsprechend achtete Gislason bei der Nominierung des vorläufigen EM-Kaders nicht nur auf handballspezifische Qualitäten: „Es ist sehr wichtig, welche Charaktere man in einer Mannschaft hat, um mit Druck und Euphorie umgehen zu können. Jeder in diesem Aufgebot wurde wegen seiner Qualitäten als Handballer ausgewählt, aber auch wegen seinem Charakter. Deshalb glaube ich daran, dass diese Mannschaft mit dem Turnier im eigenen Land gut umgehen kann.“
Gislason setzt dabei auf eine Mischung aus erfahrenen Spielern und nachrückenden Talenten. Torwart Andreas Wolff, Linksaußen Rune Dahmke, Linkshänder Kai Häfner und Kreisläufer Jannik Kohlbacher gehörten schon 2016 zu den deutschen Europameistern. Vier deutlich jüngere Spieler gewannen 2023 den U21-Weltmeistertitel in Deutschland und dürfen diese Erfahrung nun auch bei der EM einbringen: Kreisläufer Justus Fischer, Torwart David Späth sowie die Rückraumspieler Renars Uscins und Nils Lichtlein. Für Sportvorstand Kromer ist genau das ein erfreuliches Zeichen dafür, dass auch im deutschen Handball potenzielle Weltklassespieler entwickelt werden, die den Sprung von den Junioren zu den Herren schaffen.
Bundestrainer Gislason legte bei der Bekanntgabe des Kaders am Donnerstag aber Wert darauf, dass er keinen der Spieler allein wegen des U21-WM-Titels nominiert habe: „Diese Jungs sind jetzt dabei, weil sie in ihren Vereinen starke Leistungen gebracht haben.“ Fischer ist mit 20 Jahren der Jüngste im Aufgebot und einer von gleich vier Spielern der TSV Hannover Burgdorf. Der zuletzt lange verletzte Patrick Groetzki, Rechtsaußen und Kapitän der Rhein-Neckar Löwen, ist mit 34 Jahren und 171 Länderspielen der erfahrenste Mann im Kader. Auch seine Löwen stellen mit vier Spielern einen großen Block im deutschen Team.
Einen Novizen gibt es ebenfalls: Rückraumspieler Martin Hanne, auch er spielt für Hannover-Burgdorf, ist erstmals dabei. Nicht weniger überraschend, aber gleichzeitig auch beruhigend ist die Nominierung von Magdeburgs erfahrenem Rückraumspieler Philipp Weber. Wegen einer Knieverletzung im November schien die EM-Teilnahme des 31-Jährigen gefährdet. Sportvorstand Kromer ist mit der Auswahl des Bundestrainers nun insgesamt sehr zufrieden: „Wir haben eine richtig starke Mannschaft zusammen, die über sehr hohe Qualität und Selbstvertrauen verfügt.“
Nach den Weihnachtstagen trifft sich diese Mannschaft zu einem Kurzlehrgang in Frankfurt (27. bis 29. Dezember), bevor am Neujahrstag die eigentliche EM-Vorbereitung in Brunsbüttel beginnt. Es folgen zwei Testländerspiele gegen Portugal, am 4. Januar in Flensburg (16 Uhr) und am 6. Januar (18 Uhr) in Kiel. Die ländliche Abgeschiedenheit weit oben im Norden suchte der Verband bewusst aus, erklärte Kromer: „Wir haben dort große Ruhe, bevor es in die großen Städte und die großen Arenen geht.“
Nach dem Weltrekordspiel in Düsseldorf gegen die Schweiz (10. Januar, 20.45 Uhr) trifft Deutschland in der Vorrunde in Berlin auf Nordmazedonien (14. Januar, 20.30 Uhr) und Frankreich (16. Januar, 20.30 Uhr). Die ersten beiden Teams erreichen die Hauptrunde, die ab 18. Januar in Köln gespielt wird.
Zum Turnier selbst muss das Aufgebot formal erst am 9. Januar offiziell gemeldet werden. Bis eine Stunde vor dem Anpfiff werden 16 Spieler für die jeweilige Partie ausgewählt. Nachnominierungen aus Verletzungsgründen sind möglich. Mit nur 19 statt der erlaubten 20 Spieler reizte der erfahrene Gislason schon jetzt seine Möglichkeiten nicht aus, er möchte Unruhe im Kader vermeiden: „Mir ist es lieber, wenn jeder seine Rolle kennt und weiß, dass er gebraucht wird.“
Nach Platz fünf bei der Weltmeisterschaft 2023 gilt das Erreichen des Halbfinales bei der EURO 2024 als Mindestziel, das Träumen vom Titel ist erlaubt. Nur: Hören wird man das von den Verantwortlichen in den nächsten Wochen nicht. „Es macht keinen Sinn, ein Ziel auszugeben“, meint Kromer, „ein Nationalspieler will jedes Spiel gewinnen, ob bei einem großen Turnier oder im Training. Daran würde eine Zielvorgabe nichts ändern. Es ist doch klar, dass die Mannschaft nicht davon träumt, nach der Vorrunde frei zu haben.“
Dass ein so großes Turnier in Deutschland auch seine Tücken haben kann, merken die Verantwortlichen gerade auf bittere Weise: Denn die Deutsche Bahn ist ein wichtiger Mobilitätspartner für die Europameisterschaft. Die angekündigten Streiks überschatten den Turnierstart. Der DHB ist in Gesprächen mit der Bahn und hofft, dass es keine gravierenden Auswirkungen für die Fans und die Mannschaften geben wird. Sicherheitshalber halten sie alternative Lösungen für die Fans und die Spieler im Blick.