Um 9.30 Uhr knallt kein Startschuss über das Rennbahngelände, johlen keine Zuschauer im Zelt am WM-Viereck. Das diesjährige Internationale Verdener Dressur- und Springfestival hat trotzdem gerade begonnen, doch die Stimmung ist am ehesten mit dem Wort gediegen zu beschreiben. Es ist ein Fachpublikum, das sich im Zuschauerzelt eingefunden hat. Pferdezüchter vor allem, Besitzer, Familienangehörige und potenzielle Käufer. Die Sonne brennt auf dem Dach, kaum ein Luftzug regt sich, deshalb ist Wasser wohl das begehrteste Getränk, das die Kellnerinnen flotten Schrittes an die Tische bringen.
Es wird gefachsimpelt oder über aktuelle Entwicklungen in der Pferdezucht diskutiert, aber die meisten Augenpaare sind nach vorne gerichtet, auf das Viereck vor dem Zelt. Dort buhlen gerade die besten dreijährigen Stuten aus dem Zuchtgebiet des Hannoveraner Verbandes um die Anerkennung der Richter. Traditionell eröffnet die Herwart-von-der-Decken-Schau, in diesem Jahr in ihrer achten Auflage, das Verdener Pferdesport-Festival. Nicht nur für die heimischen Züchter eine Muss-Veranstaltung, sondern auch für diejenigen aus aller Welt. Nicht selten ist im Zelt die englische Sprache zu hören. Werner Schade, Zuchtleiter des Hannoveraner Verbandes, bezeichnet die Schau gerne als Schaufenster der Hannoveraner-Zucht, denn hier zeigt sich, welche Hengste sich mit welchen Eigenschaften vererben, welche Mutter-Vater-Kombinationen am besten zusammenpassen. „Mit dieser Schau wird auch die Bedeutung der Stuten für unsere Zucht noch einmal hervorgehoben. Die Veranstaltung hat sich in jedem Jahr positiv weiterentwickelt“, sagt Schade, der auch einer von vier Richtern ist. Das Komitee bewertet die Bewegungen der Pferde, ihr Sprungvermögen und ihr Aussehen.
Gute Gene und starke Nerven
Mehr als 70 Stuten, darunter 21 mit besonderer Eignung für den Parcours, werden ihm und seinen Kollegen präsentiert. Mit dabei sind auch drei Pferde von Züchtern aus dem Kreis Verden, darunter Wolfgang Lutz aus Völkersen, der seine Stute Spicy Girl (von Stakkato/Heraldik xx) in den Ring schickt, und Heinrich Behrmann aus Stedebergen, der eine Dressurstute namens Diamond’s Rose (von Diamond Hit/Belissimo M) vorstellt. Eine besondere Auszeichnung ist es allein für sie, ihre Stuten in Verden zeigen zu dürfen, denn damit gehören sie bereits zu den besten.
Auch Oliver Ross ist einer der drei Züchter und betreibt eine erfolgreiche Springpferdezucht in Morsum. Nicht nur damit läuft es bei ihm gerade ziemlich gut. Auch sportlich gesehen können sich seine Turnierergebnisse der vergangenen Wochen aus Schwarme und Elmlohe absolut sehen lassen. Was er züchtet, will er, Träger des Goldenen Reitabzeichens, auch selbst im Parcours vorstellen. So etwa die Stute Scarlatina, sein erstes Pferd, das er bei der Herwart-von-der-Decken-Schau zeigen darf.
Sie ist eine Tochter des Hengstes Stolzenberg, den Ross für seine Zuchtstute ausgewählt hat, „weil er unheimlich gut springen kann und einen ganz besonderen Stil hat“, wie er sagt. Durch Stolzenbergs Vater Stakkato steht auch ein Hengst in Scarlatinas Stammbaum, den die meisten Züchter zu den besten hannoverschen Springpferde-Vererbern zählen. Scarlatinas Mutter Amidala entstammt einem der ältesten Stutenstämme der Hannoveraner-Zucht, der bis ins Jahr 1890 zurückreicht. Eine lange und beeindruckende Ahnengalerie also, doch nun muss die dreijährige Stute selbst zeigen, was sie kann. „Sie ist nicht die typische Schaustute, aber die Hauptsache ist, dass sie springen kann, und das ist wertvoll für den Sport“, sagt Ross. Früh am Morgen hat die Pflegerin das Fell der Stute noch einmal auf Hochglanz gebracht. Die Mähne ist eingeflochten und die Hufe sind eingefettet, Gamaschen schützen die Vorderbeine vor Verletzungen.
Scarlatina hat sich bereits im Freispringen, bei dem die Pferde ohne Reiter drei Hindernisse überwinden müssen, bewiesen und kennt die Atmosphäre. Ganz cool nimmt sie also auch die Sprünge im Verdener Viereck und erntet Szenenapplaus. Ein kurzer Blickkontakt zwischen Oliver Ross und seinem Vater, und dann: Daumen hoch. Reinhold Ross, der selbst lange Jahre Pferde züchtete und immer noch als Richter in Sport und Zucht aktiv ist, ist extra aus seiner Heimat Rheinland-Pfalz in den Norden gereist, um sich die Schau anzusehen. Auch er ist begeistert vom Zuchterfolg seines Sohnes. „Dazu gehört auch Glück“, sagt er. „Man kann einem Pferd nicht in den Kopf gucken. Ein gutes Springpferd muss von sich aus leistungsbereit sein, selbst zum Sprung hinwollen, und das auch mit der nötigen Vorsicht und Cleverness.“
Und genau das hat Scarlatina gezeigt, ohne zu zögern ist sie gesprungen. Vor allem ihre starke Hinterhand, mit der sie den nötigen Schub und die Kraft für den Sprung bekommt, beeindruckt die Zuschauer. „Spektakulär“, bezeichnet das auch Marc Hahne, den Ross ausgewählt hat, das Pferd vorzuführen. Das macht Hahne schon seit vielen Jahren, er hat bereits viele, ganz verschiedene Pferde an der Hand gehabt und weiß, worauf es den Richtern ankommt.
Nach dem Freispringen steht die Musterung auf der sogenannten Dreiecksbahn an, bei der sich die Richter die Pferde im Trab anschauen. Auch dabei hinterlässt Scarlatina einen guten Eindruck, ist eines der wenigen Pferde, die ruhig bleiben und nicht vor lauter Eifer oder Ungehorsam angaloppieren. Auch die Richter sind angetan von der Morsumer Stute. „Ihre Stärken kommen vor allem in der Bewegung zur Geltung und Entfaltung. Sie ist athletisch, taktsicher und absolut sicher in der Technik über dem Sprung“, lautet das Urteil. Keine Kritik also. Platz vier belegt Scarlatina in ihrer Abteilung, sechs Pferde lässt sie hinter sich. Genauso lautet später das Ergebnis für Diamond’s Rose, dem Pferd von Heinrich Behrmann, die in der Konkurrenz der Dressurstuten angetreten ist. Spicy Girl aus Völkersen sehen die Richter auf dem letzten Platz in ihrer Abteilung.
Für Oliver Ross war die Schau eine gute Erfahrung, wie er sagt. „Für mich zählt, dass sie im Freispringen überzeugt hat und damit zu den besten gehört.“ Nun soll die Stute erstmal ein Fohlen bekommen, ehe sie ihre ersten Prüfungen im Parcours bestreitet. Doch für heute hat Scarlatina ihre Arbeit zunächst getan. Für ihren Besitzer beginnt das Verdener Turnier nun erst richtig. Mit seinen erfahrenen Pferden visiert er ab morgen die Siegerschleifen in den internationalen Springprüfungen an.