Ingo Dachwitz und Sven Hilbig sind zwei weiße Männer aus Mitteleuropa. Der eine ist in Bremerhaven aufgewachsen, der andere in Delmenhorst – genauer gesagt in Hasbergen. "Ich war viel draußen in der Natur. Die Sicherheit und Freiheit, die man dort hatte, war toll", sagt Dachwitz über seine Kindheit in dem dörflichen Ortsteil Delmenhorsts. Inzwischen lebt er in Berlin und arbeitet dort als Journalist. Seines privilegierten Lebens ist sich der 37-Jährige bewusst. Als weiße Männer aus Mitteleuropa "gehören wir zu den Menschen, die bis heute am meisten von kolonialer Ausbeutung profitieren." Doch über diesen Fakt wollten er und Hilbig nicht einfach hinweggehen. Gemeinsam haben sie ein Sachbuch geschrieben, das im Februar 2025 erschienen ist. Der Titel: "Digitaler Kolonialismus – Wie Tech-Konzerne und Großmächte die Welt unter sich aufteilen".
Das Versprechen der digitalen Revolution ist für Dachwitz und Hilbig "die Heilserzählung unserer Zeit". Mit ihrem Buch erzählen sie jedoch eine andere Geschichte: die des digitalen Kolonialismus. Statt physisches Land einzunehmen, wie im historischen Kolonialismus, erobern die heutigen Kolonialherren den digitalen Raum. Statt nach Gold und Diamanten lassen sie unter menschenunwürdigen Bedingungen nach Rohstoffen graben, die für Smartphones benötigt werden. Statt Sklaven beschäftigen sie Heere von Klickarbeitern zu Niedriglöhnen, um soziale Netzwerke zu säubern oder vermeintlich Künstliche Intelligenz (KI) am Laufen zu halten. "Geschichte setzt sich fort", merkt Dachwitz im Gespräch mit unserer Redaktion an.
Die heutigen Kolonialherren sind für Hilbig und Dachwitz die großen Tech-Unternehmen. "Sie haben sich zu den Herrschern der Welt aufgeschwungen", sagt Dachwitz. So würden die Eroberungszüge der Tech-Konzerne kolonialen Mustern folgen. Der 37-Jährige sieht diese Machtkonzentration bei Konzernen, wie Alphabet, Amazon, Apple, Meta und Microsoft, mit Sorge. Besonders heraus steche vor allem eine Person: Elon Musk. "Er ist besonders rücksichtslos und verfolgt klare, politische Ziele", meint Dachwitz. Wie groß Musks Macht ist, sei gerade an der Ukraine zu erkennen, die in ihrem Kampf gegen Russland von seinem Unternehmen Starlink abhängt. Um aus solchen Abhängigkeiten herauszukommen, reiche eine Regulierung der Tech-Konzerne nicht aus. "Sie müssen zerschlagen werden, weil sie zu mächtig sind", erklärt der Journalist, der sein Abitur am Willms-Gymnasium gemacht hat.
Eine Stimme für den globalen Süden
Rund zwei Jahre lang haben Hilbig und Dachwitz an ihrem Sachbuch gearbeitet. Ihre Intention dahinter ist es, dem globalen Süden, auf deren Kosten die digitale Revolution erfolgt, eine Stimme zu geben. "Wir verstehen uns als Verstärker", so Dachwitz. Wo immer möglich stützten sich die beiden Autoren in ihrem Buch auf die Analysen und Veröffentlichungen von Betroffenen, Forschern und Aktivisten aus Ländern des globalen Südens.
Nicht nur in dem Sachbuch setzt sich Dachwitz kritisch mit Tech-Konzernen auseinander, sondern auch in seiner Arbeit als Journalist für netzpolitik.org. "Ich bin politischer Journalist", betont der 37-Jährige, der sein Handwerk unter anderem bei einem Praktikum beim DELMENHORSTER KURIER erlernte. "Dort habe ich das Schreiben von der Pike auf gelernt", sagt er über die Zeit bei der Lokalzeitung. Inzwischen hat sich sein Schreibstil verändert. Denn in seinen Artikeln ist Dachwitz bewusst nicht neutral und objektiv. "An eine komplette Trennung von Sache und Meinung glauben wir bei netzpolitik.org nicht", erklärt er.
Welche Rolle Edward Snowden spielte
Entscheidend für seine Politisierung war das Jahr 2013, als er gerade sein Master-Studium zu Medien und politische Kommunikation an der FU Berlin absolvierte und Wistleblower Edward Snowden seine Enthüllungen öffentlich machte. Damals seien ihm die Schattenseiten des Internets bewusst geworden. Dachwitz begann, sich in der digitalen Bürgerrechtsbewegung zu engagieren. 2016 kam er zu netzpolitik.org, dem Medium für digitale Freiheitsrechte, das als Verein rein spendenfinanziert ist. 2024 wurde er mit dem alternativen Medienpreis und dem Grimme-Online-Award ausgezeichnet. "Es ist schön, wenn die eigene Arbeit eine solche Anerkennung erfährt", sagt Dachwitz. Viel wichtiger ist ihm jedoch, etwas zu verändern.
Dachwitz ist überzeugt, dass ein "anderes Internet" möglich ist. Doch dafür müsse sich einiges ändern. "Wir leben über unsere Verhältnisse", erklärt er und kritisiert den permanenten Wachstumsdruck. Neben dem Bewusstwerden darüber, dass es einen digitalen Kolonialismus gibt, sieht Dachwitz auch jeden Einzelnen in der Verantwortung. "Muss es wirklich jedes Jahr ein neues Handy sein?", fragt er. Auch bei den Diensten, die man nutzt, lasse sich einiges machen. Dass dies nicht immer einfach ist, räumt Dachwitz ein. Auch ihm selbst, der nach eigenem Bekunden gerne soziale Medien nutzt, falle es schwer. Dennoch versuche er, so gut es geht, seine Ratschläge zu beherzigen. Sein Smartphone will er so lange nutzen, bis es nicht mehr geht.
Im November möchte Ingo Dachwitz für eine Lesung aus seinem Sachbuch nach Delmenhorst kommen. Wann genau dies sein wird, steht noch nicht fest. Buchhändlerin Sabine Jünemann arbeite an einem Termin.