Als am Dienstag auf den Handys von Matthias Maskow und Udo Dreyer der Alarm mit der Abkürzung MANV einging, gepaart mit der vagen Information, dass ein oder zwei Autos vor der Kerschensteiner Schule in eine Menschenmenge gefahren sein sollen, haben sie sich direkt auf den Weg zum Unfallort gemacht – genau wie viele ihrer Kollegen von der Notfallseelsorge. Dreyer kam gerade aus dem Supermarkt, als der Alarm einging. "Bitte alle alarmieren", ordnete er an. Denn MANV bedeutet "Massenanfall von Verletzten". Und wo viele Verletzte sind, gibt es auch viele Augenzeugen und andere Betroffene, die ihre Hilfe brauchen, um mit dem Erlebten zurechtzukommen. "Man ist sofort voller Adrenalin pur, denn man weiß ja nicht, was einen vor Ort erwartet", sagt Maskow.
Auf dem Weg zum Unfallort stelle man sich alles vor – echtes Kopfkino sei dann am Werk, gemischt mit vielen organisatorischen Fragen. Vor Ort suchen die Notfallseelsorger erst einmal die Einsatzleitung auf, um sich über das Ereignis zu informieren. Die Situation am Dienstag entpuppte sich dann doch als übersichtlicher als zunächst befürchtet. "Wir haben dann zwei Augenzeugen und eine Ersthelferin betreut. Erst einmal hört man zu, was die Beteiligten sich untereinander erzählen", so Maskow. "Und man bringt sie an einen ruhigen Ort – weg vom Ort des Grauens und von der Bühne. Denn das ist ein Unfallort auch: eine Bühne, mit all den Anwesenden und den Kameras", ergänzt Dreyer.
Team aus mehreren Institutionen
Das Team der Notfallseelsorger setzt sich aus hauptamtlichen und ehrenamtlichen Mitarbeitern verschiedener Organisationen zusammen. Sie sind wie Udo Dreyer, Pastor in Wüsting und Koordinator der Notfallseelsorge in Delmenhorst und Oldenburg-Land, in der evangelisch-lutherischen Kirche tätig. Oder sie kommen wie der Coach, Trainer und psychologische Berater Matthias Maskow von den Johannitern. Mit ihrer psychosozialen Notfallversorgung tragen die Johanniter genauso wie das Deutsche Rote Kreuz (DRK) ihren Teil zur Notfallseelsorge bei.
Wenn man an die Notfallseelsorge denkt, dann häufig im Zusammenhang mit Ereignissen wie dem Unfall am Dienstag vor der Kerschensteiner Schule oder Schlimmerem. "Das ist aber gar nicht unser Haupteinsatzbereich. Viel öfter sind wir im häuslichen Bereich aktiv: plötzlicher Tod oder Tod nach erfolgloser Reanimation machen die meisten Fälle aus", sagt Dreyer. Aber auch im Fall von Suizid oder gewaltsamer Verbrechen kümmern sich die Notfallseelsorger um die Opfer, Angehörigen, Augenzeugen und Hinterbliebenen. Die Polizei unterstützen sie bei der Überbringung von Todesnachrichten.
Die Alarmierung erfolgt über eine App auf dem Handy. Da es keine Rufbereitschaft mehr unter den Notfallseelsorgern gibt, verabreden sie schnell per Whatsapp untereinander, wer in den Einsatz geht. "Wenn es möglich ist, fahren wir zu zweit. Denn auch wir sind Menschen und haben unsere Trigger-Punkte. Wir halten auch nicht alles gleich gut aus. Dann ist es gut, wenn ein Kollege in Ruf- oder Sichtweite ist", erzählt Maskow.
Die Notfallseelsorge kann keine langfristige Behandlung sein. "Wir kümmern uns um das Akute", sagt Dreyer, und weiter: "Wir leisten sozusagen die Erste Hilfe für die Seele." So kann es um die Überbringung einer Todesnachricht an sich gehen, aber eben auch darum, die Betroffenen dann nicht allein zu lassen. "So unterschiedlich die Menschen sind, so verschieden sind auch ihre Reaktionen. Meistens ist die erste Reaktion die Verleugnung: 'Nein, das kann nicht sein'. Aber es gibt natürlich auch Schockreaktionen, Schreie oder Stille. Es kann passieren, dass man eine ganze Weile einfach nur dasitzt und gemeinsam schweigt", berichtet der Pastor. Akut heißt aber nicht schnell: Vor Ort haben die Notfallseelsorger alle Zeit der Welt. "Ein Einsatz dauert in der Regel rund zwei Stunden. Es können aber auch vier bis sechs Stunden werden", sagt Maskow.
Herzzerreißende Situationen
Natürlich gebe es auch Situationen, die die Notfallseelsorger selbst belasten. "Es gibt Fälle, die einen mehr beschäftigen als andere. Zum Beispiel die beiden Femizide im vergangenen Jahr", sagt Dreyer. Kinder zu betreuen, sei das Härteste. "Es ist einfach herzzerreißend, wie ein Kind weinen kann, wenn es Eltern verliert", sagt Maskow.
Und er erzählt weiter: "Man nimmt auch mal Themen mit nach Hause. Ich würde mir aber eher Sorgen machen, wenn das nicht so wäre." Rituale könnten helfen, nach einem Einsatz wieder zu sich selbst zu finden. Zudem gibt es bei den Notfallseelsorgern eine Supervisorin, die sich um die Kollegen kümmert. Pastor Dreyer lässt sich von den Kollegen immer von ihren Einsätzen erzählen, denn "nur, wenn wir darüber sprechen, können wir es auch verarbeiten", sagt er.
Was den Notfallseelsorgern auch zu denken gibt, ist die Zahl der Dunkelziffer derjenigen, die eigentlich eine Betreuung benötigt hätten, aber keine bekommen haben. Dreyer denkt da als Beispiel noch einmal an den Unfall von Dienstag: "Da waren ja bestimmt noch mehr Augenzeugen. Und dann sind da noch all die Eltern, die im Internet oder im Radio von dem Vorfall gehört haben und sich Sorgen um ihre Kinder gemacht haben."
Zuwachs gesucht
Um weiterhin so vielen Menschen wie möglich die Betreuung zukommen lassen zu können, die sie brauchen, würde sich das Team der Notfallseelsorge über Zuwachs freuen. Allerdings kommt nicht jeder für diese spezielle Tätigkeit infrage, deshalb werden zuvor Auswahlgespräche geführt. Wer sich dafür interessiert, sollte empathisch, stabil und resilient sein. Ein hohes Maß an kultureller und sozialer Toleranz muss ebenfalls vorhanden sein. "Schließlich weiß man nie, wo und bei wem man landet", so Maskow. Doch das Wichtigste sei zum einen das geduldige Zuhören und zum anderen eine gute Portion an Zeit.