Herr Azadzoy, im November haben Sie mit der afghanischen Nationalmannschaft zwei deutliche Pleiten kassiert. In der WM-Qualifikation setzte es ein 1:8 gegen Katar und ein 0:4 gegen Kuwait. Wie haben Sie diese Partien erlebt?
Mustafa Azadzoy: Als wir gegen Katar das 1:1 gemacht haben, hatte ich kurzzeitig die Hoffnung, dass wir ein Unentschieden holen können, aber dann ist es doch relativ schlimm ausgegangen. Danach war ich schon sehr traurig über die Höhe der Niederlage, genauso wie nach dem Spiel gegen Kuwait. Es war dennoch eine geile Erfahrung, in Katar zu spielen. Unser Spiel war in dem Stadion, in dem bei der WM Japan gegen Deutschland gespielt hat. Und dass rund 20.000 Zuschauer kommen würden, hatte ich vorher auch nicht erwartet.
Sie haben das eine Tor gegen Katar vorbereitet und waren der Kapitän eines Teams, dem viele Leistungsträger fehlten. 18 Spieler, die allesamt nicht in Afghanistan, sondern im Ausland aktiv sind, reisten aus Protest nicht zum Nationalteam. Was hatte das für Auswirkungen auf die Mannschaft?
Inklusive mir waren nur vier Spieler da, die im Ausland spielen. Auf diesem hohen Niveau kannst du nicht fast nur mit Spielern aus Afghanistan antreten, die noch nirgendwo anders Erfahrungen gesammelt haben. So konnten wir nicht mithalten, wie man an den Ergebnissen sieht. Auf dem Feld war es für mich extrem schwierig. Teamkollegen, die schon höher gespielt haben, können einen als Spieler schnell lesen. Das fällt Spielern schwerer, die über keine höherklassige Erfahrung verfügen. Für mich war es daher schwer, als zentraler Mittelfeldspieler die Bälle zu verteilen.
Konnte das zusammengewürfelte Team vorher zumindest richtig miteinander trainieren?
Nein, es gab Probleme mit den Flugtickets. Die wurden erst kurz vorher gebucht. Woran das genau lag, weiß ich nicht. Ich bin erst einen Tag vor dem ersten Spiel angekommen. Das Abschlusstraining habe ich noch mitgemacht und habe dann auch direkt gespielt. Da hatte ich den Flug noch in den Knochen und musste mich auch an das sehr warme Wetter erst gewöhnen. Das Stadion in Katar hatte zwar eine Klimaanlage, aber trotzdem ist es eine Umstellung. Die anderen Spieler aus dem Ausland sind zwei Tage vorm Spiel angekommen und hatten also auch kaum Zeit, um sich einzuspielen. Die Spieler aus Afghanistan hatten in der Heimat schon gemeinsam trainiert.
In einem Brief an die Fifa und den asiatischen Verband beklagen sich einige der streikenden Spieler laut dem englischen „Guardian“ über schlechte Flüge und minderwertige Hotels bei den Länderspielreisen. Es wird auch der Vorwurf erhoben, dass afghanische Funktionäre Gelder von der Fifa selbst eingesteckt hätten, statt sie in den Fußball zu investieren. Haben Sie darüber nachgedacht, sich dem Streik anzuschließen?
Ja. Ich habe lange mit meiner Familie und meiner Frau darüber gesprochen. Bei mir war es ein besonderer Fall, denn ich wusste, dass es meine letzten beiden Länderspiele für Afghanistan werden, bevor ich aus dem Nationalteam zurücktrete. Es war für mich eine sehr lange und emotionale Reise mit Höhen und Tiefen. Da wollte ich nicht einfach so aufhören. Dass ich danach kein Länderspiel mehr bestreiten werde, war für mich zu 100 Prozent klar. Daher wollte ich diese zwei Spiele noch mitmachen und mich vernünftig verabschieden.
Was sind die Gründe für Ihren Rücktritt?
Ich glaube, es ist einfach Zeit dafür. Für mich ist das alles sehr intensiv geworden – die langen Reisen und die Trainingseinheiten. Ich bin jetzt 31 und werde nicht mehr jünger. Es kommen viele Talente nach. Wenn ich weiterspielen würde, würden sie mich womöglich nicht auf die Bank setzen, weil sie mir viel Respekt zollen, auch wenn ein Jüngerer es mehr verdient hätte, zu spielen. Irgendwann muss man Platz machen für die neue Generation, das ist nur fair. Ich habe eine schöne Zeit im Nationalteam gehabt, auf die ich gerne zurückblicke, aber jetzt ist es Zeit für etwas Neues.
Das klingt alles sehr überlegt, doch wie schwer ist Ihnen dieser Schritt emotional gefallen?
Er ist mir extrem schwergefallen und fällt mir immer noch schwer. Wenn ich jetzt mitkriege, wie die nächsten Länderspielreisen geplant werden, bin ich schon traurig, dass ich daran nicht mehr teilnehme.
Sie haben 2013 mit Afghanistan die Südasienmeisterschaft gewonnen. Beim 2:0-Finalsieg über Indien haben Sie ein Tor geschossen. War das der Höhepunkt Ihrer Länderspielkarriere?
Ja, das war ohne Frage der Höhepunkt. Mit der Nationalmannschaft habe ich alles erreicht, was ich erreichen wollte. Meine größten Ziele waren, eine Trophäe zu holen, ein Länderspiel in der Heimat zu erleben, ein WM-Quali-Spiel und ein Quali-Spiel für die Asienmeisterschaft zu bestreiten. Diese Ziele habe ich alle erreicht.

Ein Bild aus dem Jahr 2013: Nach dem Sieg bei der Südasienmeisterschaft wurden die afghanischen Nationalspieler in Kabul von einer jubelnden Menschenmenge empfangen.
Wie viele Länderspiele haben Sie insgesamt absolviert?
Genau weiß ich das gar nicht. Die Zahl, die bei "transfermarkt.de" steht, ist jedenfalls zu niedrig. Es waren ungefähr 50 Länderspiele.
Dass Sie ausgerechnet ihre letzten beiden Länderspiele nicht absagen wollten, können sicher die meisten nachvollziehen. Wie stehen Sie zu den 18 Spielern, die gestreikt haben?
Wir haben das alles zusammen durchgemacht. Sie waren immer an meiner Seite und ich war an ihrer Seite. Wäre ich nicht in dieser besonderen Situation gewesen, hätte ich mich auch dem Streik angeschlossen.
An den Vorwürfen, dass die Länderspielreisen mangelhaft organisiert und die Bedingungen schlecht seien, ist also etwas dran?
Ja, das habe ich bei der letzten Reise ja auch gemerkt. Wenn man erst einen Tag vor dem Spiel ankommt, kann man sich nicht richtig vorbereiten. Du willst Leistung bringen, aber kannst es nicht, weil die Umstände dich daran hindern. Die Hotels und Flüge an sich sind ganz gut, aber es ist eben nicht gut organisiert. Und das geht uns auf die Nerven.
Was sagen Sie zu den erhobenen Korruptionsvorwürfen in Richtung von afghanischen Verbandsfunktionären?
Dazu sage ich lieber nichts. Ich möchte da keine Probleme bekommen, auch mit Blick auf meine Zukunft.
Ende März stehen die nächsten zwei WM-Qualifikationsspiele gegen Indien auf dem Programm. Kann sich der Streit bis dahin klären, sodass die 18 Spieler wieder dabei sind?
Es gibt einige Spieler, die wohl wiederkommen würden. Andere wollen erst wieder anreisen, wenn sich wirklich etwas ändert. Vor allem jüngere Spieler haben mich um Rat gefragt. Für sie ist das Nationalteam ein Sprungbrett. So war es bei mir damals auch. Durch die Länderspieleinsätze hat sich für mich die Chance ergeben, Profi in Thailand zu werden. Die jungen Leute wollen alle wieder zurück zur Nationalmannschaft, und ich habe ihnen auch gesagt, dass sie das machen müssen. Ob da etwas schiefläuft oder nicht, sie wollen spielen und sich zeigen. Wenn sie etwas erreichen wollen, ist das die größte Bühne für sie.
Ein wichtiges Thema war auch die Trainerposition. Viele Spieler wünschten sich einen anderen Coach, und mit dem Engländer Ashley Westwood hat nun ein neuer Mann übernommen. Welchen Eindruck haben Sie von ihm gewonnen?
In den zehn Jahren, in denen ich in der Nationalmannschaft gespielt habe, ist er der beste Trainer. Er hat Ahnung von dem, was er tut. Abseits des Platzes übernimmt er eine Art Vaterrolle. Vorher hatten wir gute Trainer, die aber einfach nur ihr Programm abgespult haben. Er hat sich dagegen im Hotel viel Zeit genommen, um mit jedem Einzelnen zu sprechen, auch über private Probleme. Es ist schade, dass ich nicht noch mehr Zeit mit ihm als Trainer erleben werde. Während der Länderspielreise konnte ich sehr viel von ihm lernen. Davon kann ich auch einiges mitnehmen für meine Trainerkarriere nach der aktiven Zeit.
Sie wollen also Trainer werden?
Nachdem mein Rücktritt aus der Nationalmannschaft bekannt war, habe ich direkt einen Anruf vom Verband bekommen. Sie haben gefragt, ob ich irgendwann im Trainerstab mitarbeiten möchte. Erst einmal möchte ich jetzt aber meine aktive Fußballkarriere in Deutschland weiter vorantreiben. Drei oder vier Jahre kann ich noch spielen, denke ich. Danach kann ich mir vorstellen, für den Verband tätig zu werden. Ich glaube, dass ich gute Chancen habe, beim Nationalteam einen Posten im Trainerstab zu übernehmen.
In Afghanistan haben die islamistischen Taliban 2021 die Macht übernommen. Die Lage im Land ist unsicher, deshalb trägt die Nationalmannschaft ihre Heimspiele in Saudi-Arabien aus. Fühlen sich solche Partien wie Heimspiele an?
Nein, da kommt kein wirkliches Heimspielgefühl auf. Ich habe Spiele in Afghanistan vor 15.000 oder 20.000 Zuschauern erlebt. In Saudi-Arabien waren vielleicht fünf oder sechs Afghanen da. Gegnerische Fans kamen auch nicht. Da waren 200 Zuschauer, wenn überhaupt. Und die meisten davon waren Securitys. Die Bedingungen waren echt super. So gute Trainingsplätze habe ich noch nie gesehen. Der Rasen im Stadion war auch top, aber es fehlten halt die Leute.
Wann waren Sie das letzte Mal in Afghanistan?
Das war 2013.
Ist Ihnen die Lage in Afghanistan zu unsicher, um dorthin zu reisen?
Seit der Machtübernahme der Taliban ist die Lage schwierig einzuschätzen. Es gibt Spieler aus der Nationalmannschaft, die im Ausland leben und in letzter Zeit für ein paar Wochen in Afghanistan waren. Die haben erzählt, dass man sich dort ganz normal aufhalten kann. Aber ich hätte dafür momentan auch gar nicht die Zeit. Durch den Fußball und die Arbeit in unserer Möbelspedition bin ich voll ausgelastet. Und mit meiner Frau möchte ich natürlich auch Zeit verbringen.
Haben Sie noch Verwandte in Afghanistan?
Nein, Gott sei Dank ist meine ganze Familie in Europa oder in Amerika. In Afghanistan ist niemand mehr. Daher wüsste ich auch gar nicht, was ich dort machen sollte. Wenn ich irgendwann tatsächlich für den Verband als Trainer arbeiten sollte, würde ich aber sicherlich mal wieder hinfliegen.
Dann könnten Sie erstmals die Kreuzung in Kabul besuchen, die nach Ihnen benannt wurde.
Ja, das stimmt. Da war ich noch nie. Eine Grundschule in Kabul wurde auch nach mir benannt. Da war ich aber auch noch nicht. Das kam alles durch unseren Sieg bei der Südasienmeisterschaft und durch mein Tor im Finale. Es wäre sicherlich schön, das mal zu sehen.

Mit dem SV Atlas hat sich Kapitän Mustafa Azadzoy (rechts) für die Rückrunde einiges vorgenommen.
Lassen Sie uns noch auf den SV Atlas blicken, der momentan auf Platz zehn in der Oberliga liegt. Wie fällt Ihr Zwischenfazit der Saison aus?
Wir haben viele Punkte liegen gelassen, das tut schon weh. Wir gehen mit einem mulmigen Gefühl in die Winterpause. Ich denke aber, dass wir einen stabilen Kader haben, wenn wirklich alle mal fit sind. Dann werden wir in der Rückrunde diese Punkte nicht noch einmal liegen lassen. Bisher musste sich das Trainerteam wegen der vielen Ausfälle fast jede Woche etwas Neues ausdenken. Davor habe ich sehr großen Respekt. Ich hoffe, dass sich die Personallage jetzt normalisiert.
Was haben Sie sich mit Atlas für die restliche Saison vorgenommen?
Im Pokal wollen wir so weit wie möglich kommen. Im Halbfinale gegen Melle sind wir der Favorit und müssen entsprechend auftreten. In der Oberliga ist mir wichtig, dass wir in den Spielen gegen die Teams von oben wie Rehden oder Kickers Emden klare Statements setzen. Wir sind Atlas Delmenhorst und nicht irgendwer. Wir sind Regionalliga-Absteiger und gehören ganz nach oben.
Sie spielen Ihre zweite Saison beim SV Atlas. Vorher waren Sie Profi in Thailand. Nach Ihrer Rückkehr nach Delmenhorst haben Sie auch angefangen, in der familieneigenen Möbelspedition zu arbeiten. Wie groß war die Umstellung für Sie?
Das ganze erste Jahr war sehr schwer für mich. Ich hatte das etwas unterschätzt. Wenn man in der Firma um 6 Uhr anfängt, bis 17 Uhr arbeitet und dann direkt zum Training fährt, ist man nicht immer voll fokussiert. Anfangs hatte ich mit Key Riebau einen Trainer, der das nicht richtig einschätzen konnte. Ihm fehlte vielleicht die Erfahrung im Umgang mit Spielern, die direkt aus dem Profitum kommen. Das machte es mir noch schwerer, und ich war zu der Zeit sehr unzufrieden. Natürlich waren die Erwartungen an mich hoch, das konnte ich auch verstehen. Aber viele Leute sahen die Hintergründe eben nicht, wussten nicht, wie viel ich am Arbeiten war und dass mir das die Kraft raubte. Der Verein hat mir geholfen, vor allem Bastian Fuhrken (der Atlas-Sportchef, Anm. d. Red.) hat oft mit mir gesprochen. Jetzt im zweiten Jahr habe ich mich an die ganze Situation gewöhnt und kann meine Leistung besser abrufen.