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Die Karriere von Mesut Özil Der schüchterne Junge aus dem Affenkäfig

Mesut Özil macht Schluss: Der 34-jährige Weltmeister beendet seine außergewöhnliche Karriere. Aus ärmsten Verhältnissen wurde er zum Weltstar, landete über Werder Bremen bei Real Madrid. Doch es gab auch Ärger.
22.03.2023, 18:45 Uhr
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Der schüchterne Junge aus dem Affenkäfig
Von Jean-Julien Beer

Als Mesut Özil zum ersten Mal im Profifußball auftauchte, dachten alle, er wäre krank. 17 Jahre war er jung, als er bei Schalke 04 zum Training der Profis gerufen wurde. Im Frühjahr 2006 war das. Der junge Özil lebte zwar in Gelsenkirchen, spielte aber erst seit einem Jahr in der Schalker Jugend. Im Training der Profis zeigte er nun unglaubliche Dinge am Ball. Aber: Er sprach kein Wort, weder in der Kabine noch auf dem Platz. Der dänische Nationalspieler Ebbe Sand, damals Schalker Kapitän, sagte später: „Wir dachten, er wäre taubstumm.“

Dabei war er nur schüchtern. Denn der schmächtige Mittelfeldspieler, der nur wenige Wochen später im Schalker Trikot die Bundesliga verzaubern sollte, fühlte sich schon damals wie ein Gescheiterter. Um das zu verstehen, muss man sich mit seiner Herkunft beschäftigen. Aufgewachsen im verarmten Stadtteil Bismarck, spielte der Junge aus der maroden Bornstraße jeden Tag in einem Metallkäfig, der zwei Straßen weiter stand: ein mit Stahl eingezäunter Fußballplatz, den die Jungs nur „Affenkäfig“ nannten. Sein Bruder, Cousins, die Kinder aus der Gegend – alle kickten darin bis in die Dunkelheit.

Es von hier in den Profifußball oder gar zu Real Madrid zu schaffen, ist sehr unwahrscheinlich. Aber klar war: Wenn es einer schaffen würde, dann der kleine Mesut. Doch egal, wo er mit seinen Ballfertigkeiten zum Probetraining vorspielte: Der dünne türkische Junge wurde immer fortgeschickt, auch beim FC Schalke, dessen Trainingszentrum nur fünf Minuten entfernt war. Wenigstens Rot-Weiß Essen griff irgendwann zu, doch das führte nur zum nächsten Problem: Um dort zu trainieren, musste sich Özil mit einem Bus abholen lassen. Sein Elternhaus war schäbig mit kaputten Scheiben. Er stellte sich auf die andere Straßenseite, damit keiner merken sollte, wie arm er lebte.

Zu Schalke und in die Bundesliga kam er nur durch Zufall: Schalkes Jugendtrainer Norbert Elgert sah ihn in der Schule kicken – und erkannte sofort das Talent. Es entwickelte sich ein Dialog dieser Art: „Von wo kommst du?“ Özil: „Hier aus Gelsenkirchen.“ Elgert: „Und warum spielst du dann nicht bei Schalke?“ Özil: „Weil ich immer weggeschickt werde.“

Elgert nahm ihn unter seine Fittiche. Özil wurde deutscher A-Jugendmeister und Bundesligaprofi. Doch die weiteren Vertragsgespräche mit Schalke wurden schwierig – auch wegen Mesuts Vater Mustafa, einem selbstbewussten Mann. Es kam zum großen Krach, nicht zum letzten Mal in Özils Karriere. Der damalige Schalke-Boss Clemens Tönnies erinnert sich: „Der Vater sagte uns, sein Sohn werde bald mit Messi in Barcelona spielen. Wir dachten, gleich müssen wir dem den Puls fühlen.“

Man wurde sich nicht einig – da nutzte Werder Bremen im Januar 2008 die Chance und verpflichtete Özil für nur knapp vier Millionen Euro. Ein Schnäppchen von Manager Klaus Allofs. Trainer Thomas Schaaf formte Özil zu einem Matchwinner. Im Pokalfinale 2009 schoss er das Siegtor gegen Leverkusen, es ist bis heute Werders letzter großer Titel. Bei der WM 2010 in Südafrika spielte Özil im Deutschland-Trikot überragend, prompt klopfte Real Madrid bei Werder an. Trainer José Mourinho freute sich diebisch: „Den Jungen konnten wir uns nicht entgehen lassen.“ Im August 2010 wechselte Özil für 18 Millionen nach Madrid – und wurde an der Seite von Cristiano Ronaldo zum Weltstar. Er spielte nun zwar nicht mit Messi, aber gegen Messi. Mit seinen genialen Pässen wurde Özil der beste Torvorbereiter der spanischen Liga – er ist bis heute der einzige Spieler der Welt, dem das in Spanien, Deutschland und England gelang.  

Sein Vater spielte oft eine Schlüsselrolle. Und meinte es eigentlich gut. Wie früher, als er mit seinem Jungen im Auto nach Dortmund fuhr und an einem Spieltag in Stadionnähe parkte. Sie hatten keine Tickets und schauten nicht das Spiel. Er wollte seinem Sohn nur die vielen Leute zeigen, die zu so einem Stadion pilgern. Und sagte: „Vergiss nie: So sind die Leute, für die du mal spielst.“ Weniger gut war das, was nach brillanten ersten Jahren in Madrid passierte. Özil wollte seinen Vertrag verlängern, Real auch – aber der Vater wurde sich mit dem mächtigen Real-Präsidenten Perez nicht über das Gehalt einig und knallte wütend die Tür zu. Ein Skandal. Und so musste Özil über Nacht zum FC Arsenal nach London wechseln. Fast 50 Millionen zahlten die Engländer als Ablöse und auch ein horrendes Gehalt. Richtig erfolgreich wurde die Beziehung aber nicht.

2014 wurde Özil mit Deutschland Weltmeister. Bei allen sieben Spielen in Brasilien stand er in der Startelf. Auch wenn viele Fans und Experten oft seine phlegmatische Spielweise kritisierten, wollte Jogi Löw nie auf ihn verzichten. Löws damaliger Assistent Hansi Flick lobt nun, zum Karriere-Ende des inzwischen 34-jährigen Özil: „Er war einer der besten Spieler der Welt.“

Aber kein einfacher Mensch. In London überwarf er sich mit seinem Vater, nach der WM 2018 mit dem gesamten deutschen Fußball. Grund war ein Foto, das ihn vor Turnierbeginn (mit Ilkay Gündogan) beim türkischen Präsidenten Erdogan zeigte. Erst gab es politische Diskussionen, dann fühlte sich Özil als Sündenbock für das WM-Aus. Er stoppte verärgert seine Karriere im Nationalteam und warf dem Deutschen Fußball-Bund Rassismus vor.

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Seine große Karriere endete nun eher klein, nach vielen Verletzungen bei Basaksehir in Istanbul. Die Zahlen des Weltmeisters aber lesen sich groß: 254 Spiele für Arsenal, 159 für Real Madrid, 108 für Werder, 39 für Schalke. Dazu 92 Länderspiele für Deutschland. Eine Menge für den kleinen Jungen aus dem Affenkäfig. Taubstumm war er nicht. Er ließ nur lieber den Ball sprechen.

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