Jiri Pavlenka hatte vor 80.000 Zuschauern im Tor gestanden, die größte Stehplatztribüne Europas im Blick, und zwei Elfmeter gehalten. Aber eine Interviewrunde um kurz nach halb eins? Da konnte sich Werders Keeper wahrlich angenehmere Aufgaben vorstellen. Doch es war ein besonderer Abend in Dortmund, der mittlerweile zur Nacht geworden war, und so stellte sich sogar der sonst so wortkarge Tscheche den Journalisten. „Ich bin sehr glücklich, dass ich der Mannschaft helfen konnte und wir weitergekommen sind“, sagte Pavlenka, dem Max Kruse nach dem entscheidenden Elfmeter zum 7:5 um den Hals gefallen war. Danach ging es für den Kapitän schnurstracks weiter Richtung Gästeblock, über die Werbebande und rauf auf den Zaun. Pavlenka hatte unterdessen noch zeremonielle Pflichten zu erfüllen.
Er nahm die Auszeichnung für den „Man of the Match“ entgegen, eine wenig wohnzimmertaugliche Trophäe. Doch nicht aus diesem Grund schränkte Pavlenka mit großer Bescheidenheit ein: „Eigentlich bin ich nur der ‚Man of the Penalties‘ gewesen, im Spiel habe ich ja fast nichts gehalten.“ Tatsächlich bekam er erst in der 106. Minute den ersten Schuss des BVB zu fassen, da lag Werder 1:2 hinten. Eine weitere Parade folgte, aber Pavlenkas große Stunde schlug erst, als er die Elfmeter von Paco Alcácer und Maximilian Philipp abwehrte. „Ich war mir hundertprozentig sicher, dass ich die ersten beiden halte“, sagte er. Diese Eingebung wird als eine von vielen Anekdoten mit diesem wahnsinnigen Spiel in Werders DFB-Pokal-Geschichte eingehen.
Die entscheidende Fußspitze
In der Verlängerung schickten Claudio Pizarro und Martin Harnik mit ihren Joker-Toren ebenfalls starke Bewerbungen ein. Die erste erinnerungswürdige Anekdote hatte sich nach nicht einmal fünf Minuten ereignet, als Max Kruse und Nuri Sahin an der rechten Strafraumecke zum Freistoß bereitstanden. Sahin war kurz von Trainer Florian Kohfeldt an die Seitenlinie beordert worden und hatte die Aufgabe, seinen Teamkollegen an eine Absprache zu erinnern. „Ich wollte ihn eigentlich hoch ins Eck schießen“, verriet Kruse später. „Aber was der Trainer sagt, muss umgesetzt werden.“
Der Plan lautete: Aufsetzer auf den zweiten Pfosten, um Werders ehemaligem U23-Torwart Eric Oelschlägel in seinem ersten großen Profispiel direkt eine unangenehme Aufgabe zu stellen. So ganz ging der Plan nicht auf, weil Milot Rashica den Freistoß mit der Fußspitze in der Luft erwischte und ins Tor lenkte. „Da gehört schon viel Fantasie zu, dass das so gewollt war“, sagte Kohfeldt und schickte augenzwinkernd einen kleinen Seitenhieb in Richtung des Torschützen: „Milot musste nicht mehr nachdenken, das hat ihm sicher auch geholfen.“
Das Nachdenken hatte Kohfeldt ausführlich übernommen, als er sich die Strategie für den zweiten Auftritt der Saison in Dortmund zurechtlegte – inklusive aller Abwägungen, wie BVB-Trainer Lucien Favre in bestimmten Fällen reagieren würde. Beim ersten Auftritt, einer 1:2-Niederlage Mitte Dezember, hatte Werder verblüffend engagiert mitgespielt und den BVB hoch attackiert. Laut Kohfeldt war das damals in einer schwierigen Phase der Hinrunde mit großem Hader-Potenzial als eine Art Beschäftigungstherapie gedacht. „Heute ging es dagegen nur ums nackte Ergebnis. Deshalb wollten wir bewusst diese tiefere Phase einstreuen, um dann irgendwann die Raute wieder auszupacken“, erklärte er die etwa 70 Minuten nach dem Führungstor, in denen Werder die Dortmunder mit einer Fünferkette und drei Mittelfeldspielern direkt davor empfing.
Mahnende Worte von Kruse
Dass pure Emotionen und taktische Erläuterungen in der Nachbereitung gleichermaßen Platz einnahmen, passte zu einem Spiel, das trotz des K.o.-Charakters erst in der zweiten Hälfte der Verlängerung so richtig abgegangen war. „Ich war beeindruckt, wie wir Fußball gespielt haben. Wir haben es geschafft, Leidenschaft und Cleverness zusammenzubringen“, sagte Kohfeldt. „Heute hat jeder gesehen, welche Siegermentalität grundsätzlich in uns steckt.“ Doch es sei nicht möglich, diese Leidenschaft jede Woche auf den Platz zu bringen, das könne keine Mannschaft der Welt. „Aber diese Cleverness musst du dir jede Woche erarbeiten. Wenn wir clever gewesen wären, hätten wir auch in Nürnberg gewonnen“, sagte Kohfeldt.
Mit konkreten Aussagen, was dieser Erfolg für den Rest der Saison, insbesondere in der Bundesliga, bedeuten könnte, hielten sich der Trainer und seine Spieler entsprechend zurück. Welchen Eindruck Werder mitunter bei der Konkurrenz hinterlässt, wollte Kohfeldt aber nicht ganz verhehlen. „Ich habe heute dreimal gehört: ‚Ihr spielt so einen Fußball und seid Zehnter in der Liga? Was ist denn mit euch los?‘“, erzählte er. Die nächste Aufgabe heißt am Sonntag um 15.30 Uhr: Heimspiel in der Bundesliga gegen den FC Augsburg. Danach folgen sechs weitere Ligaspiele, bis das Pokal-Viertelfinale ansteht. Anfang April dürfte sich dann längst abzeichnen, welcher der beiden möglichen Wege nach Europa der realistischere ist. Im Pokal hat Werder am Dienstag die momentan schwierigste Aufgabe im deutschen Fußball gelöst. „Wir können mitnehmen, dass wir guten Fußball gespielt und uns belohnt haben. Aber wir haben weder im DFB-Pokal noch in der Bundesliga bisher etwas erreicht“, sagte Kapitän Kruse.
Bis Freitag kann die Mannschaft den Erfolg von Dortmund genießen, inklusive eines freien Tages am Donnerstag. „Gleich wenn ich im Bus sitze, schreie ich noch einmal laut und dann ist gut“, kündigte Kohfeldt für sich persönlich an. Während der Trainer über das Erlebte sprach, ging immer wieder die Kabinentür auf und Musik drang nach draußen, „Wonderwall“ von Oasis inklusive. Es war eben ein Abend großer Werder-Emotionen, an dessen Ende sogar Jiri Pavlenka von seinen Heldentaten berichtete. Das will etwas heißen.