Am Rande des Spiels gegen den FC Bayern gab es im Weserstadion eine besondere Situation. Die Partie hatte noch nicht begonnen, die Mannschaften liefen gerade erst aus dem Spielertunnel aufs Feld. Die Ersatzspieler gingen am Rand entlang zu ihren Sitzplätzen. Darunter war auch Bayerns Ersatztorhüter Daniel Peretz, der durch die kurzfristige Verletzung von Manuel Neuer ins Aufgebot gerutscht war. Peretz ist ein israelischer Fußballer, er wurde im Juli 2000 in Tel Aviv geboren, kam 2023 von Maccabi Tel Aviv zum FC Bayern.

Grün auf Weiß ist die Werder-Kolumne des WESER-KURIER, in der Chefreporter Jean-Julien Beer einen Blick hinter die Kulissen des Bremer Traditionsvereins wirft, Zusammenhänge erklärt und Entwicklungen einordnet.
Als Peretz nun ins Weserstadion kam, warf er einen interessierten Blick auf die bunte Choreografie der Werder-Fans in der Ostkurve. Als er die Choreo sah, blieb Peretz direkt stehen. Er stupste seinen Nebenmann Serge Gnabry an und zeigte in Richtung Ostkurve. Beide unterhielten sich darüber. Dann klatschte Peretz den Werder-Fans anerkennend Beifall für die Choreografie.
Mit einem großen Bild hatten die Bremer Anhänger an den ermordeten Werder-Fan Hersh Goldberg-Polin erinnert. Der Israeli war viele Monate eine der Geiseln gewesen, die in den Gazastreifen verschleppt wurden. Immer wieder hatte auch Werder die Freilassung des Fußballfans gefordert. Nun war Hersh in einem Tunnel der Hamas-Terroristen tot gefunden worden – unmittelbar vor der möglichen Befreiung durch die israelische Armee war er mit zwei anderen Geiseln getötet worden. In großen Buchstaben standen in der Ostkurve des Weserstadions nun drei Wörter für Frieden: „Shalom, Salam, Peace“ – und dazu der Satz, den Hershs Vater auf der Beerdigung seines 23 Jahre alten Sohnes sagte: "May your Memory be a revolution, Achi!" Was bedeutet: Möge die Erinnerung an Dich zu einer Revolution werden.
In Darstellung und Tonalität genau richtig
Das waren emotionale Minuten im Weserstadion. Die große Weltpolitik und die Leiden in diesem Konflikt reichten in dem Moment bis an den Spielfeldrand und verdrängten die Lust auf Fußball in den Hintergrund. Es war ergreifend und in der Darstellung und Tonalität genau richtig. Diese Bilder brannten sich nicht nur bei den Stadionbesuchern und Bayern-Profi Peretz ein, sie gingen um die Welt – weil ein Spiel gegen den „Global Player“ Bayern München auch außerhalb von Deutschland mehr Aufmerksamkeit bekommt als jeder andere Auftritt von Werder in einer Saison.
Es war zwar erst das zweite Bremer Heimspiel, aber doch schon die zweite bewegende Choreografie im Stadion des SV Werder. Auch beim ersten Mal war die gesamte Ostkurve beteiligt, als vor der Partie gegen Borussia Dortmund an den verstorbenen Willi Lemke erinnert wurde. Auch das geschah mit einem großen Porträt sowie den Worten: Willi Lemke, unvergessen. Wer dabei war, ob bei Lemke oder nun bei Hersh, der spürte die Besonderheit des Moments. Die Trauer, das Nachdenken, das Erinnern. Man muss allen Beteiligten beim SV Werder und in der Fanszene ein großes Kompliment machen: In beiden Fällen war das Gedenken würdevoll, und dass viele Menschen im Stadion spontan ihre Handykameras zückten und den Moment festhielten, ist ein Beleg dafür.

Die Choreografie vor dem Heimspiel gegen Dortmund.
Nach beiden Choreografien wurde Fußball gespielt, und es ist schade, dass nach den Spielen andere Themen für die großen Schlagzeilen und Nachrichten sorgten. Nach dem 0:0 gegen Dortmund ging es hauptsächlich um die späten oder falschen Auswechslungen, das schlechte Überzahlspiel oder den Frust von Marvin Ducksch und Marco Friedl. Nach dem 0:5 nun gegen die Bayern ging es um die totale Chancenlosigkeit der Bremer und um den enttäuschenden Fakt, dass die Werder-Spieler in 90 Minuten nicht einen Torschuss hinbekamen. So etwas erlebt der FC Bayern selbst in seinen dominantesten Partien selten.
Möglich, dass die sportlichen Erinnerungen an beide Partien schnell verblassen und man schon in ein oder zwei Jahren im Bekanntenkreis rätseln muss, wie genau das Ergebnis war. Diese beiden Choreografien aber und der Umgang mit den Verstorbenen, das wird in der Erinnerung jedes Ergebnis überdauern. Der SV Werder und seine Fans haben sich hier als Fußballfamilie gezeigt, die von zwei bekannten Personen aus ihrer Mitte eindrucksvoll Abschied genommen hat. Man kann Lemke und Hersh nicht vergleichen, die Herausforderung bestand aber in beiden Fällen darin, keinesfalls zum grün-weißen Alltag überzugehen. Das ist eindrucksvoll gelungen.