Es ist eine Himmelfahrt aus der Innenstadt Bottrops mit dem 268er-Bus hinaus durch den Stadtteil Fuhlenbrock zum Bergwerk Prosper-Haniel, ganz oben im Norden der Stadt. Die Zeche liegt jenseits der Bundesautobahn 2, die so etwas wie die Nord-Grenze des Ruhrgebiets bildet, im Niemandsland zwischen Oberhausen, Bottrop-Kirchhellen und Gladbeck. Gefühltes Münsterland.
Es ist eine Himmelfahrt. Auch für die noch verbliebenen 1200 Bergleute, die täglich von anderen Zechenstandorten hierhin gekarrt werden. Auf dem kunstvoll besprühten Bus sind die Namen anderer Bergwerke zu lesen: Friedrich-Heinrich (Kamp-Lintfort), Walsum (Duisburg), Lohberg (Dinslaken). Alle haben das Schicksal, das nun auch das Bergwerk Prosper-Haniel treffen wird, schon hinter sich. Sie wurden in den vergangenen Jahren dichtgemacht, sind heute gesichtsloses Gewerbegebiet, Kraftwerksgelände oder auch Berg-Park.
Ende nach mehr als 200 Jahren
Nach mehr als 200 Jahren endet an diesem Freitag im Schatten der Halde, auf derem Gipfel zum Besuch von Papst Johannes Paul II. 1987 ein Spurlattenkreuz errichtet wurde, der industrielle deutsche Steinkohle-Bergbau. Von den einst über 600.000 Beschäftigten in 173 Bergwerken, sind noch magere 1395 Kumpel auf dem Bergwerk Prosper-Haniel übrig. Ein Kreuzweg mit 15 Stationen führt hinauf auf den 150 Meter hohen Berg, der an guten Tagen einen weiten Blick hinaus in die Landschaft gestattet. An dunkelgrauen Tagen wie diesen endet hier eine Epoche. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat sich angesagt, EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, Ministerpräsident Armin Laschet sowie allerlei Prominenz. Ein letztes Händeschütteln, dann ist es vorbei. Die Vorbereitungen auf Prosper-Haniel laufen auf Hochtouren, der weiße Pavillon für die zahlreichen Ehrengäste ist längst errichtet, die Zeche hübscht sich ein letztes Mal auf für hohen Besuch.
Nicht dabei sein wird Gabriele Adenhöfer. Die Angestellte der Zechenkantine bleibt an diesem Tag zu Hause. „Wir haben frei“, sagt sie. Das Catering für den Festakt wurde extern vergeben. Der Lieferwagen mit dem Equipment eines hippen, vollbärtigen Baristas aus dem nahen Oberhausen steht schon vor dem Zechentor. Am Freitag werden Cappuccino statt Kaffee, Kanapees statt Currywurst gereicht, die die Kumpel laut Adenhöfer am liebsten essen. Sie muss es wissen. Auf drei Schachtanlagen hat sie schon gearbeitet: Polsum, Westerholt und nun hier auf Prosper-Haniel. Bis Mitte 2020 wird es für sie weitergehen. Und dann? Achselzucken.
Maschinen werden demontiert
Zur Wahrheit gehört auch: Schicht im Schacht ist hier am Freitag lange noch nicht, auch wenn der letzte Brocken Kohle von in Spitzenzeiten bis zu 142 Millionen Tonnen (1960) irgendwann im Oktober zutage gefördert wurde. Denn es müssen noch alle Maschinen demontiert werden. Die Walzen, die Schienen, die Messgeräte, die Telefone. Alles muss raus. Das schreibt Paragraf 22a der Bundesbergverordnung vor. Und kommt unter den Hammer: Die Förderbänder hat sich ein türkisches Unternehmen gesichert. Oder wird als Erinnerungsstück verschenkt: Der große Hobel von „Prosper-Haniel” steht mittlerweile vor der Arena von Schalke 04. Der Rest wird dann verwertet. Es wird noch zwei weitere Jahre dauern, bis alles abgebaut ist. Mehrere hundert Bergleute werden weiter täglich einfahren, ganz so als ob nichts geschehen sei.
Auch Heiko Bess hat noch ein halbes Jahr vor sich, bevor er mit 53 Jahren nach 33 Jahren erst in die Anpassung, dann in den Ruhestand gehen darf. Im August 1985 hat er hier angefangen und ist noch als einer der wenigen Bergleute von der Prosper-Stammbelegschaft übrig. Schritt für Schritt wurde Personal abgebaut und durch Kumpel, die noch nicht das notwendige Alter auf dem Buckel hatten, von anderen Schachtanlagen ersetzt. Auf der Suche nach Arbeit mussten die Bergleute oft weite Wege in Kauf nehmen: Bis ins 138 Kilometer entfernte Bergwerk Ibbenbüren im Tecklenburger Land, das bereits im Sommer geschlossen wurde. Der nördlichste Vorposten des Bergbaus liegt auf halbem Weg zwischen dem Ruhrgebiet und Bremen. Die Integration der vielen, neuen Kumpel, „das hat auf Prosper immer gut geklappt“, sagt Bess, ein drahtiger, sportlicher Mann.
Anderswo weniger: Die Kulturunterschiede zwischen den einzelnen Bergwerken waren mitunter groß. Nachdem zum Beispiel 1989 die benachbarten Bergwerke Lohberg und Osterfeld zu einem Verbund zusammengeschlossen wurden, nannten sich die Belegschaften noch bis zum Ende der fusionierten Zeche 2005 nach den Völkern in Star Trek-Filmen wechselseitig „Klingonen“ und „Ferengi“. Meist spöttisch gemeint, aber nicht nur.
Nicht immer harmonisch
Auch der Zusammenleben der unterschiedlichen Kulturen unter Tage war nicht immer so harmonisch, wie es nun in den zahllosen Rückblicken verklärt dargestellt wird. Selbstverständlich gab es auf den Zechen auch Streit und rassistische Anfeindungen. Das fing bei der Körperhygiene in der Nasskaue an und hörte nicht bei der Diskussion darüber auf, warum angeblich kein türkischstämmiger Spieler in der Ersten Mannschaft des Fußballvereins der Siedlung spielen dürfe.
Doch meist haben sie sich gut vertragen, die Kumpel. Weil sie in 1200 Meter Tiefe auf Sohle 7 bei Temperaturen bis zu 46 Grad und hoher Luftfeuchtigkeit in den Stollen existenziell aufeinander angewiesen waren. Bei Schlagwettern (Grubengasexplosionen), gefährlichen Bränden oder Gesteinsabbrüchen. Das schweißt zusammen. „Ich habe mit Engländern, mit Italienern, Spaniern, Franzosen, mit Griechen, mit Türken zusammengearbeitet. Das waren alles sehr gute Arbeitskameraden“, erzählt Bergmann Herbert Hötzel, der selbst als Vertriebener aus Niederschlesien 1946 nach Duisburg kam und bis zur Schließung 1976 auf der Zeche Friedrich Thyssen gearbeitet hatte, in einem kurzen Video für das Netz-Projekt „Menschen im Bergbau“.
An diesem Freitag weist Heiko Bess als Mitglied der Grubenwehr den 500 Ehrengästen den Weg zum Parkplatz. Anschließend wird er noch ein halbes Jahr bei der Demontage beschäftigt sein. Dann ist Schicht. Mit dem Anpassungsgeld und der Knappschaftsausgleichsleistung kann er seine Familie knapp über Wasser halten. Wie viel Geld er genau ab Sommer 2019 zur Verfügung haben wird, weiß er noch nicht genau: „Das wird erst am Ende ausgerechnet“. Der Anspruch berechnet sich nach einem komplizierten Punktesystem.
Die Hände in den Schoß legen möchte der gelernte Bergmechaniker nicht: „Ich werde mir eine Arbeit suchen, stundenweise, als Zuverdienst“. Ganz so üppig wie oft dargestellt wird das Aus des Bergbaus nicht abgefedert. Rund 113 Millionen Euro ließ sich der Bund 2016 die Frühpension der Bergleute kosten. Dem gegenüber standen 1,2 Milliarden Euro Absatzhilfe für die in Deutschland von damals 10 000 Bergleuten produzierte Steinkohle, die aufgrund der geologisch bedingten hohen Förderkosten schon seit den 1960er-Jahren nicht mehr wettbewerbsfähig ist.

Bergmann Andreas Stieglan arbeitet in Bottrop auf der Zeche Prosper Haniel in 1250 Meter Tiefe an einem Flöz unter Tage vor Kohle.
Rechnet man zusammen, mit welchen Summen der Betrieb unrentabler Steinkohlen-Bergwerke in Deutschland subventioniert wurde, kommt man auf eine Summe von mindestens 150 Milliarden Euro. Der Freiburger Wirtschaftshistoriker Franz-Josef Brüggemeier nennt in seinem Werk „Grubengold“ sogar die Summe von 200 Milliarden Euro. Auf der anderen Seite wären allerdings im Falle einer sofortigen Schließung der unrentablen Bergwerke immense Transferleistungen in die Sozialsysteme notwendig geworden.
Und: Von den Subventionen auf dem Energiesektor profitiert längst nicht nur der Bergbau. So ist die EEG-Umlage (Erneuerbare Energien-Gesetz) nichts anderes als eine Fortsetzung der Politik des „Kohlepfennigs“, der dazu dienen sollte, über den Strompreis den Absatz der deutschen Steinkohle zu fördern. Im Gesamtjahr 2017 summierten sich laut „Internationalem Wirtschaftsforum Regenerative Energien“ die Einnahmen auf dem EEG-Konto auf insgesamt rund 27,4 Milliarden Euro. Dagegen waren die 1,2 Milliarden Euro für die Steinkohle 2016 eine fast zu vernachlässigende Summe.
Allerdings wird der Steinkohle-Bergbau auch in Zukunft noch teuer sein. Rund 200 bis 300 Millionen Euro pro Jahr wird es kosten, die Pumpen laufen zu lassen, mit denen verhindert werden soll, dass sich das durch den Bergbau um mehrere Meter abgesackte Ruhrgebiet nicht in eine Seenplatte verwandelt. Zu diesem Zweck wurde 2007 die RAG-Stiftung ins Leben gerufen, in die unter anderem die Gewinne des Mischkonzerns Evonik fließen. Damit sollen die sogenannten „Ewigkeitskosten“ abgedeckt werden. Zudem wird auch in Zukunft noch ein Heer von Vermessern damit beschäftigt sein, die zahlreichen Bergschäden zu begutachten und zu begleichen, die
bedingt durch den ausgehöhlten Untergrund des Ruhr-Reviers auch in Jahrhunderten noch auftreten werden.
Wie wird es weitergehen im Revier? Während im Süden des Ruhrgebiets, in dem die Zechen meist schon in den 1960er-Jahren schlossen, die Folgen des Strukturwandels weitgehend bewältigt sind, türmen sich im Norden die Probleme zu hohen Halden auf. Die Arbeitslosigkeit ist in Städten wie Gelsenkirchen, aber auch im Essener und Duisburger Norden, bundesweit spitze. Da kann in der ehemaligen Bundesrepublik nur Bremerhaven mithalten.
"Neue Seidenstraße"
Ein Beispiel, wie es erfolgreich weitergehen kann, liefert der Duisburger Hafen. Unter der Regie des ehemaligen Bertelsmann-Managers Erich Staake wurden in den vergangenen zwanzig Jahren ehemalige Grundstücke der Montanindustrie zu Logistikflächen umgewandelt. Auf Logport, dem damaligen Gelände der Krupp-Hütte in Rheinhausen, einst Schauplatz eines leidenschaftlichen Kampfes um Arbeit, stehen heute endlose Hallen. Dort werden unterschiedlichste Waren gelagert. Auch ehemalige Bergbauflächen weit über die Stadtgrenzen hinaus vermarktet der Hafenbetrieb dank eines Joint Ventures mit der Ruhrkohle. In Oberhausen entsteht auf dem Gelände einer Kohlenmischanlage das neue Distributionszentrum des Lebensmittelhändlers Edeka, in Kamp-Lintfort hat sich der südafrikanische Möbelkonzern Steinhoff auf dem Grundstück des Bergwerks Friedrich-Heinrich niedergelassen. In Marl soll das Gelände der 2015 geschlossenen Zeche Auguste Victoria/Blumenthal entwickelt werden.
Duisport profitiert von der Anbindung über den Rhein an Rotterdam. Seit 2011 lässt der Hafen Güterzüge zwischen dem Ruhrgebiet und China pendeln. Rund 35 Stück pro Woche. „Neue Seidenstraße“ wird die Strecke genannt, die inzwischen auch andere Häfen entdeckt haben. Eine Fahrt dauert rund 14 Tage. Im Vergleich dazu: Ein Containerschiff ist 40 Tagen zwischen China und Deutschland unterwegs. Rund 30 000 Arbeitsplätze sind in den vergangenen zwanzig Jahren auf ehemaligen Flächen der Montanindustrie entstanden. Längst nicht genug, um die Job-Verluste zu kompensieren, aber immerhin. Staake, ehemaliger Vorsitzender des Initiativkreises Ruhrgebiet, macht aber ein Mentalitätsproblem im Ruhrgebiet als Hindernis aus, das auch in den wehmütigen Abschiedsfeiern für den Bergbau zum Ausdruck kommt: „Die Menschen packen an, sind zu allem bereit, aber leben etwas zu sehr in der Tradition, in der Vergangenheit“, sagt der 65-Jährige in einem Phönix-Dokumentarfilm. Stattdessen fordert er: „Wir müssen Mut zu Neuem entwickeln.“