Last Call for ... Den letzten Aufruf stellte sich Air Berlin vermutlich anders vor. Ganz anders. Elegant, modern, luxuriös, weltoffen. So wie die Obersten des Konzerns gerne das Image in den vergangenen drei Jahrzehnten pflegten. Stattdessen landete die Fluggesellschaft auf dem Krabbeltisch eines Online-Portals. Wasserbälle, kleine Seifenstücke, Umhängetaschen, Anstecknadeln, sogar Bordtrolleys riefen die Auktionatoren auf. Mehr als 300 Sammlerstücke boten sie auf dem virtuellen Marktplatz feil und erzielten satte Gebote von teils mehreren hundert Euro.
Natürlich befanden sich auch die kleinen Schokoladenherzen darunter – nicht angebissen, faltenfrei in rot-weißer Alufolie verpackt. Und das ist dann doch eine Besonderheit. Weil die Süßigkeit selten gegessen wurde, aber meistens in irgendeiner Hand- oder Geschäftstasche verschwand, täglich weiter nach unten durchsickerte, bis sie schließlich zermalmt von Geldbeutel, Akten, Handy und Laptop zutagegefördert wurde und leider im Mülleimer landete. Nichtsdestotrotz: Dieses kleine Kalorienbömbchen ist ein Symbol dafür, weshalb Air Berlin so besonders, so anders, so beliebt und unvergesslich ist.
Das Unternehmen legte stets Wert darauf, dass Fliegen wie in früheren Zeiten etwas Besonderes blieb, obwohl sich Air Berlin als Billigflieger etablierte. Genau deshalb hoben sich die Hauptstädter von den Mitbewerbern wohltuend ab. Die Sitze waren bequem, der Abstand zum Vordermann üppig im Vergleich zu anderen Ölsardinentransporten. Das Personal servierte Getränke und Snacks umsonst, während die Konkurrenz schon längst Mondpreise für ein Fläschchen Wasser, ein belegtes Brötchen oder Nüsse verlangte. Es gab die süße Aufmerksamkeit in Herzform beim Aussteigen und dazu ein Lächeln von den Stewardessen, die piekfeine rote Lederhandschuhe trugen. Der Passagier fühlte sich wertgeschätzt und nicht wie eine Fracht hin- und hergeschubst als „Typ von Sitz 21 A“. Nicht zuletzt deshalb stellte Air Berlin auf den Flughäfen dieser Welt ein Stück gut bekannte Heimat dar – egal, ob es von Bremen aus nach Mallorca ging oder von Düsseldorf nach Miami oder von Berlin nach New York.
Die Sicht mag romantisch klingen. Zugegeben, ist sie auch. Höhere Ticketpreise wollten die Passagiere für den besseren Service nicht zahlen. Wie das heute leider oft so ist. Das stellte nicht das alleinige Problem der Fluggesellschaft dar. Air Berlin verfolgte keine gezielte Strategie, wollte alle Märkte abgrasen und erreichte zuletzt gar nichts. Das Alleinstellungsmerkmal fehlte. Das Unternehmen war alles und nichts: Ferien- und Geschäftsflieger, Billiganbieter und die Fernstrecke gehörte irgendwann auch ins Portfolio.
Hinzu kam das unglückliche Händchen bei der Wahl der Vorstandschefs. Joachim Hunold stieg 1991 bei Air Berlin ein, vergrößerte die Flotte, etablierte den Mallorca-Shuttle und kaufte andere Gesellschaften (LTU und Deutsche BA) hinzu. Es war sein Lebenswerk, allerdings mit zu hoch fliegenden Plänen. Es folgte Hartmut Mehdorn. Der Ex-Bahnchef war nur für eine Übergangszeit an der Spitze gedacht, weil selbst der Allzweckwaffe die Neuordnung nicht gelang. Wolfgang Prock-Schauer versuchte sich ebenfalls an der Sanierung. Er verkleinerte die Flotte. Weil auch ihm die Sanierung nicht glückte, flog er. Stefan Pichler kam mit viel Elan von Fiji Airways. Es verbuchte Anfangserfolge. Dann wurden die Verluste immer größer. Als letzten Trumpf zog Großaktionär Etihad Thomas Winkelmann aus dem Ärmel. Zu spät. Für die Rettung fehlte ihm Zeit. Winkelmann übernahm ein Himmelfahrtskommando. Mit einer Ausnahme flog Air Berlin seit 2008 Verluste ein. Die Airline überlebte nur, weil die Araber hunderte Millionen Euro zuschossen, um Zugang zum deutschen Markt zu behalten. Mitte August folgte die Insolvenz. Der Flugbetrieb konnte nur durch einen Kredit des Bundes über 150 Millionen Euro gesichert werden.
Die Fluggesellschaft mit den Schokoherzen zeigt für ihren letzten Chef dennoch ein riesiges Herz. Bis zu 4,5 Millionen Euro stehen Winkelmann zu, abgesichert sogar durch eine Bankgarantie. Das treibt den rund 4500 Beschäftigten, die vor einer ungewissen Zukunft stehen, die Zornesröte ins Gesicht. Für sie ist wie für viele Passagiere nach der Landung der letzten Maschine an diesem Freitag um 22.45 Uhr in Berlin-Tegel das Kapitel Air Berlin noch lange nicht erledigt. Von wegen Romantik! Von wegen Last Call!