Massendemonstrationen und Polizeieinsätze in der Innenstadt, ein Senatsbeschluss, der für helle Aufregung sorgt, der Streit um den Hochwasserschutz, hitzige Diskussionen darüber, wie Lehrer korrekt anzusprechen sind… Hört sich alles sehr aktuell an, was sich im Jubiläumsband der Bremer Verwaltungsgerichtsbarkeit so alles an Entscheidungen findet. Ist tatsächlich aber alles schon Jahrzehnte alt. Ein Streifzug durch 100 Jahre Verwaltungsgerichtsurteile in Bremen:
Tumulte zum Ladenschluss
In der Diskussion um Ladenschlusszeiten ordnete der Senat Ende 1949 an, dass künftig alle Einzelhandelsgeschäfte sonnabends bereits um 14 Uhr zu schließen haben. Das Traditionshaus C & A Brenninkmeyer scherte dies wenig, es ließ die Türen seines Kaufhauses am Brill auch nach 14 Uhr geöffnet. Ein Polizeikommando rückte an und schloss die Geschäftsräume. Das Verwaltungsgericht entschied, dass die Firma ihre Verkaufsräume einstweilig sonnabends auch nach 14 Uhr offenhalten dürfe. Am Sonnabend darauf protestierten 3000 Beschäftigte im Einzelhandel gegen die Ladenöffnung bei C & A. Der Demonstrationszug drang in die Verkaufsräume des Kaufhauses ein, blockierte die Zugänge zum Geschäft und machte einen Verkauf unmöglich. Das darauf einsetzende juristische Hin und Her beendete das Bundesverfassungsgericht. Es erklärte das Bremische Ladenschlussgesetz für ungültig.
Empörung über Milchpreis
Zu Beginn des Jahres 1955 erhöhte der Bremer Senat den Höchstpreis für Trinkmilch von 38 auf 40 Pfennig pro Liter. Empörung in Bremen: Die Gewerkschaften kündigten Proteste an, Großabnehmer von Trinkmilch, wie etwa Werkskantinen, stornierten ihre Bestellungen, Milchhändler beklagten, dass ihnen wegen der Preiserhöhung „die Hölle heiß“ gemacht wurde. Auch dieser Fall landete vor dem Verwaltungsgericht, das die Preiserhöhung für rechtswidrig erklärte.
Hochwasser-Schnellschuss
Nach der Sturmflutkatastrophe vom Februar 1962 setzte der Senat im Suhrfeld und im Niedervieland „besonders gefährdete Überschwemmungsgebiete“ fest, in denen das Wohnen insgesamt und das Nächtigen in der Zeit vom 1. Oktober bis 30. April verboten war. Dies traf diejenigen hart, die genau dort in den Nachkriegsjahren mit Billigung der Stadt Wohnhäuser errichtet hatten. In einer Art Musterverfahren strengten drei von ihnen im April 1964 ein Normenkontrollverfahren an. Mit Erfolg: Das Oberverwaltungsgericht kippte den „Schnellschuss“ des Gesetzgebers.
Titelstreit um „Studienräte“
Im Oktober 1978 ersetzte die Bürgerschaft die Amtsbezeichnung „Studienrat“ durch die für alle Lehrkräfte einheitliche Amtsbezeichnung „Lehrer für das Lehramt an öffentlichen Schulen“, kurz „LöSch“. Dagegen zogen dreißig Betroffene vor das Verwaltungsgericht. Sie empfanden die neue Regelung als gefühlte Degradierung. Das Gericht differenzierte: Für alle, die vor dem Gesetz ernannt worden waren, blieb es bei „Studienräten“, alle danach sollten die Bezeichnung „Lehrer für das Lehramt an öffentlichen Schulen“ hinnehmen. Das sah das Bundesverfassungsgericht zwar schon 1982 anders, doch es sollte bis Ende 2009 dauern, bis Bremen bei der Besoldungsgruppe A 13 wieder die Amtsbezeichnung „Studienrätin, Studienrat“ einführte.
Chaos und 315 Inhaftierte
Anlässlich der sogenannten „Chaostage“ am Wochenende Anfang August 1996 kam es nachts im Bereich der Sielwall-Kreuzung zu Angriffen auf die Polizei und in deren Folge nicht weniger als 315 Personen in den Arrestzellen des Polizeipräsidiums landeten. Einer der Inhaftierten klagte dagegen – er habe sich lediglich als interessierter Zuschauer an der Kreuzung aufgehalten. Die Klage wurde zurückgewiesen.
Aufenthaltsrecht für Kurnaz
Im Juni 2005 ging im Verwaltungsgericht die Klage des türkischen Staatsangehörigen Murat Kurnaz ein. Die Ausländerbehörde hatte ihm, 1982 in Deutschland geboren und seit 1998 im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis, im Februar 2005 per Verwaltungsakt mitgeteilt, dass seine Aufenthaltserlaubnis erloschen sei. Kurnaz war 2001 nach Pakistan ausgereist, dort als mutmaßlicher Taliban-Kämpfer festgenommen und in das US-Gefangenenlager Camp X-Ray nach Guantanamo auf Kuba gebracht worden. Das Verwaltungsgericht gab ihm im November 2005 recht. Seine Aufenthaltserlaubnis sei nicht erloschen, der anderslautende Bescheid wurde aufgehoben.
Von 200 auf fast 4000 Verfahren
Mit 200 Verfahren fing die Tätigkeit der Bremischen Verwaltungsgerichtsbarkeit einst an (1925). In der Zeit des NS-Terrors praktisch kaltgestellt (1944: zehn Verfahren), stieg die Zahl der Verfahren in den 1950er-Jahren auf bis zu 800 im Jahr an. In den 1980er-Jahren nahm die Zahl der Verfahren dann stetig zu (Aufenthaltsrecht, Hochschulzulassungen, Asyl). Während der sogenannten ersten Flüchtlingswelle in den Jahren 1993 und 1994 wurden annähernd 4000 Verfahrenseingänge verzeichnet. 2016 und 2017, bei der zweiten Welle, waren es jeweils über 3500. Seitdem liegt das Eingangsniveau kontinuierlich zwischen 2500 und 3000. Spektakuläre Themen waren zuletzt der Streit um die Bremer Affenversuche, das Aus für den Offshore-Terminal in Bremerhaven, der Rechtsstreit mit der Deutschen Fußball-Liga über zusätzliche Polizeikosten, das Gehwegparken und vor allem Corona.