Die Gruppe von Radfahrern, die über den Marktplatz kurvt und an der Unteren Rathaushalle stoppt, hat ein Ziel: Vor Bremens tierischem Wahrzeichen sollen Fotos gemacht werden – mit Esel, Hund, Katze und Hahn; mit denen will schließlich jeder mal abgelichtet werden. Die erste Radlerin lehnt ihr Rad an die Wand, nimmt den Helm ab, fährt sich mit den Händen durch die Haare und stellt sich zum Fotoshooting vor der Statue auf. Und dann lassen sich alle nacheinander – mit oder ohne Rad – vor den Tieren fotografieren, und sind hinterher so schnell, wie sie auf den Platz gerollt sind, auch schon wieder weiter gefahren.
An dem Denkmal vor der Unteren Rathaushalle herrschen Kommen und Gehen, und die vier Tiere haben keine ruhige Minute. So ist das, wenn man rund um den Globus bekannt ist – wie zum Beispiel bei dem japanischen Ehepaar Tomohiro und Sawako Mizutani, das gerade einen Passanten bittet, ein Foto von sich und seinen Kindern Sosuke und Yusuke vor der Statue zu machen.
„Diese Geschichte lernte jedes japanische Kind in der Schule“, schrieb der frühere Bundespräsident und gebürtige Bremer Karl Carstens in seinem 1993 erschienenen Buch „Erinnerungen und Erfahrungen“, und tatsächlich kennt auch Familie Mizutani die Bremer Stadtmusikanten bereits aus ihrer Heimat. „Es ist ein wirklich bekanntes Märchen für die Kinder in Japan“, bestätigt Tomohiro Mizutani: Die Kinder seien deshalb sehr aufgeregt gewesen, dorthin zu fahren, wo die vier Tiere „in echt“ zu sehen sind. Und auch wenn sich Sawako Mizutani bereits um einiges vor dem Besuch Bremens im Internet über allerlei informiert hat, so ist das Erlebnis, der echten Statue gegenüber zu stehen, doch ein spannender Moment.

Henry Tietze schreibt auf seien Urlaubsreisen keine Postkarten, er schickt Bilder der Tweety-Figuren.
Ein überall bekanntes Märchen
Für Hans Sonntagbauer, den nächsten Besucher, der sich die vier Tiere anschaut, sind die Stadtmusikanten „die Musikkapelle, die berühmt-berüchtigte.“ Die muss man unbedingt angucken, findet der Mann aus Oberösterreich, der in Landestracht die Hansestadt erkundet: In Lederhose, mit Hosenträgern, Lederweste, dicken Wollsocken in den Schuhen und Trachtenhut ist er mit einer Gruppe auf Rundreise durch Europa und entdeckt an diesem Tag Bremen: Marktplatz, Roland, Schnoor – das ganze Programm, und natürlich auch die Bremer Stadtmusikanten. Und Hans Sonntagbauer kennt das Märchen. „Das haben wir schon in der Schule gelernt.“ Zwei seiner Begleiter nicken zustimmend.
Und dann sitzen zwei gelbe Stoffvögel zwischen den Vorderhufen des Esels: in Matrosenanzügen, einer mit blau-geringeltem, einer mit rot-geringeltem T-Shirt, mit Seemanns- beziehungsweise Piraten-Mütze. „Das sind die Bilder, die wir dann an unsere Freunde schicken“, erklärt Henry Tietze aus Ruhland und macht ein Foto von den beiden Tweetys. Seit über zehn Jahren erkundet Tietze Deutschland und verschickt seine Tweetys vor allen möglichen Sehenswürdigkeiten. Er kennt sich aus mit der Geschichte der vier Tiere und der Statue am Rathaus, und er weiß, dass es Glück bringen soll, die Beine des Esels anzufassen: „Wir haben das gelesen.“ Und dann müssen Henry Tietze und seine Stoffvögel schnell weiter – zur nächsten Bremer Sehenswürdigkeit.
Jetzt steht Liria Lens vor dem kleinen Denkmal. Die Brasilianerin, die derzeit in Russland lebt, bereist Europa für einen Monat, mit Zwischenstopp in Bremen: „Es ist mein erster Tag hier.“ Mithilfe des Internets hat sie sich auf die Stadtmusikanten vorbereitet und ist informiert über die glücksbringenden Eselbeine im Doppelpack. Martin Zarlenga aus Argentinien, seit drei Monaten auf Europareise und gerade auf dem Weg von den Niederlanden nach Kopenhagen, weiß zwar nicht ganz so detailliert Bescheid, aber immerhin, „dass das Märchen von den Brüdern Grimm ist.“ Er hat sich vorbereitet auf seine Reise, will hiesige Spezialitäten probieren und Attraktionen sehen, und er posiert für ein Foto neben den vier Bronze-Tieren.

Der Oberösterreicher Johann Sonntagbauer kennt die Geschichte der Stadtmusikanten seit seiner Kindheit und findet, dass man sich die Statue ansehen müsse, wenn man Bremen besucht.
Die nächste Reisegruppe, die nächste Familie, die nächsten Freunde kommen neugierig um die Ecke, schlendern von der Obernstraße herüber oder wollen nach dem Roland nun auch die Stadtmusikanten sehen. Es ist ein ständiges Kommen und Gehen, aber wirklich lange bleibt niemand an der Statue. Die meisten kommen für einen prüfenden Blick und ein schnelles Foto. Dann geht’s weiter.
Karlien Strijbosch aus den Niederlanden war bei einer Hochzeit in der Nähe von Hannover und macht noch einen Abstecher nach Bremen – sie will unbedingt die Stadtmusikanten aus der Nähe sehen. Ihr Begleiter und sie stellen ihre Fahrräder neben dem Rathaus ab. Der junge Mann bewacht die Räder, Karlien Strijbosch geht an der Seite um die Statue herum. Sie weiß, dass das Märchen von den Brüdern Grimm stammt. Die vier Stadtmusikanten kennt die junge Frau noch aus der weiterführenden Schule. „Ich musste eine Schulpräsentation halten“ – das war vor zehn Jahren.
Die Touristen kennen sich aus. Bei den Bremer Stadtmusikanten am Rathaus muss man mit allem rechnen, mit Stoffvögeln im Matrosenanzug genauso wie mit einem Ruderklub, der eine Pyramide macht, wie Stadtführerin Katharina Rosen es erlebt hat. Esel, Hund, Katze und Hahn haben viel zu gucken von ihrer Hausecke aus.

Stadtführerin Katharina Rosen von Bremenlotsen hat die Erfahrung gemacht, dass die meisten Touristen nicht wissen, dass man bei den Beinen des Esels mit beiden Händen zugreifen muss.
Ein Selfie, ein Foto von der Freundin, ein Familienbild: Immer herrscht Trubel bei den vier Märchengestalten. Zeitweise wird es so voll, dass es deutliche Worte an die Umstehenden gibt: „Wir sind jetzt dran“ oder „Können Sie bitte aus dem Bild gehen.“ Ansonsten warten die Touristen geduldig, bis sie dran sind oder sich eine Lücke auftut. Selbst nach Geschäftsschluss und bei Dunkelheit kommen Besucher. Esel, Hund, Katze und Hahn zeigen sich unbeeindruckt von all dem Ruhm.
Bei geführten Rundgängen mit Touristengruppen ist ein Stopp bei der Statue am Rathaus Pflicht. „Die Stadtmusikanten müssen immer dabei sein“, sagt Stadtführerin Katharina Rose von den Bremenlotsen. Ihre Erfahrung: 95 Prozent aller internationalen Touristen, die Bremen besuchen, kennen die vier. Aber: „Meist nicht richtig.“
Die Besucher wüssten, dass die Bremer Stadtmusikanten Tiere seien, aber welche genau, sei nicht immer bekannt. „Und was viele auch nicht wissen: Dass die vier es nie bis nach Bremen geschafft haben.“ Außerdem würden sich viele über die Größe des Denkmals wundern, sagt Arthur P. Zapf, Stadtführer von Art-Tours. Zapf ist in aller Regel dicht dabei, wenn Touristen die Bronzestatue am Rathaus zum ersten Mal in ihrem Leben sehen. Die vier Tiere sind natürlich auch bei seinen Führungen ein Muss.
Dass die Geschichte weltweit bekannt ist und die Stadt Bremen durch die Statue auch eine bedeutende Touristenattraktion erhalten hat, sei den Bremern nicht von Anfang an klar gewesen. Als die Skulptur kam, sei sehr gespottet worden, erinnert sich Zapf. Heute sind sich auch die Bremer des Nutzens dieser vier tierischen Gesellen bewusst. Für viele Touristen seien die Stadtmusikanten gar ein Hauptgrund, nach Bremen zu kommen, so der Gästeführer.
Serie "200 Jahre Stadtmusikanten": Anlässlich des Jubiläums der Bremer Stadtmusikanten erzählen wir Ihnen jeden Donnerstag eine Geschichte über die berühmten Aussteiger.