Es ist ein ganz normaler Wochentag. Jody Krain sitzt im Auto neben ihrer Mutter, die sie vom Reiten abgeholt hat. „Wir sind den Schwarzen Weg in Gröpelingen entlang gefahren, von Weitem habe ich gesehen, dass ein Mann auf dem Gehweg liegt. Zwei Erwachsene standen um ihn herum und haben ihm geholfen“, beschreibt die 14-Jährige die Situation. Aus der Nähe sieht die Schülerin, dass es sich um einen älteren Mann handelt, der stark aus einer Wunde am Kopf blutet. Er war offenbar mit seinem Fahrrad gestürzt.
„Zuerst habe ich noch gezögert, ob ich auch helfen soll, es waren ja schon die Erwachsenen da, die sich um ihn gekümmert haben“, sagt die Schülerin. Als sie sieht, dass sich der Mann aufrecht hinsetzen will und die beiden Helfer ihn dazu bewegen wollen, flach am Boden liegen zu bleiben, „bin ich in einem Reflex aus dem Auto gesprungen, wir standen gerade an einer roten Ampel“.
Die 14-Jährige weiß, was sie tut. Sie kennt sich in der Erstversorgung bei Notfällen aus, ist ausgebildete Ersthelferin und gehört zum Schulsanitätsdienst an der Gesamtschule West. „Bei einer so heftig blutenden Kopfwunde ist es besser, den Kopf aufrecht zu halten. Man kann sich das wie bei einer offenen Flasche vorstellen. Wird sie hingelegt, fließt Flüssigkeit heraus. Nicht, wenn man sie hinstellt“, sagt sie. Den Erwachsenen am Unfallort erklärt sie das Vorgehen und das Flaschen-Prinzip – und kümmert sich mit ihnen um den älteren Mann. Die Helfer hatten bereits einen Rettungswagen gerufen.
„Ich habe in dem Moment gehandelt, ohne groß nachzudenken. Ich musste einfach, als ich das gesehen habe“, sagt die 14-Jährige. „Wenn ich nicht helfen würde, hätte ich ein schlechtes Gewissen. Und: Ich helfe gerne.“ Dies sei ein Grund dafür gewesen, dass sie sich Anfang vergangenes Jahr für den Schulsanitätsdienst gemeldet habe. Schulen in Bremen können in Kooperation mit Hilfsorganisationen einen Sanitätsdienst mit Schülern aufbauen. An der Gesamtschule West ist das Jugendrotkreuz (JRK) Bremen, das als eigenständiger Verband dem Kreisverband des Deutschen Roten Kreuz angehört, Partner. Die Schule, in der Jody Krain die achte Klasse besucht, ist einer von 18 Standorten, an denen das Jugendrotkreuz den Sanitätsdienst begleitet.
Einen klaren Kopf behalten
„Die Entscheidung, einen solchen Dienst mit Schülern aufzubauen, liegt bei den Schulen. Wir bieten die Ausbildung an, die es den Mädchen und Jungen ermöglicht, in Notfallsituationen einen klaren Kopf zu behalten und sofortige Hilfe zu leisten“, sagt Nadine Kobarg, Referentin für den Schulsanitätsdienst beim Jugendrotkreuz. „Sie können Schul- und Sportfeste betreuen und sind zu Sanitätsdiensten während der Unterrichtszeiten eingeteilt.“ Die Organisation übernehme die Schule, eine oder mehrere Personen wie Lehrer oder Sozialpädagogen seien Begleiter der Schulsanitäter, übernähmen die Einteilung in Dienste und fungierten als Ansprechpartner für das Jugendrotkreuz.
„In 33 Stunden an insgesamt fünf Tagen werden den Schülern die Kenntnisse vermittelt“, erklärt Kobarg. Neben der Theorie gehörten Rollenspiele dazu, in denen sie den Umgang mit Verletzten lernten. „Es wird gezielt das vermittelt, was in Schulen passieren kann.“ Dies seien vor allem Sportunfälle. Die Schüler lernen wie ein Bein geschient, Verletzte transportiert, Wunden erstversorgt oder der Kreislauf stabilisiert wird – und wie Wiederbelebung funktioniert. Inhaltlich hätten die Schulsanitäter eine noch bessere Ausbildung als Ersthelfer. „Die Schülerinnen und Schüler sind für die Zeit vom Unterricht befreit, der verpasste Stoff muss von ihnen selbstständig nachgearbeitet werden“, betont die Referentin. Die Kosten für die Ausbildung würden von der Unfallkasse übernommen.
Für ihren Dienst bekommen die Schulsanitäter ein Handy und Rucksack mit Material für die Erstversorgung. Kühlpacks, Pflaster, Verbandsmaterial, aber auch Tüten für den Fall, dass sich jemand übergeben muss, gehören dazu. Über das Handy werden die diensthabenden Schulsanitäter etwa vom Sekretariat informiert, in dem Fall verlassen sie sofort den Unterricht. Kobarg: „Es sollten immer zwei Schulsanitäter aus einem Jahrgang parallel zum Dienst eingeteilt sein.“ Das freiwillige Angebot werde ab der siebten Klasse empfohlen, sagt die Referentin. „Und es kommt mehr als gut an, meistens melden sich sogar zu viele.“
Die Erfahrung habe gezeigt, dass die Jugendlichen offen, mit großem Interesse und ohne Angst an das Thema Erste Hilfe herangingen. Der Schulsanitätsdienst sei aber auch mehr als praktisches Wissen im Umgang mit Verletzungen und bei Unfällen. „Es geht um Einsatz und Engagement für andere Menschen. Das ist eine Haltung, die die Schülerinnen und Schüler mitbringen“, betont Kobarg. Bestes Beispiel dafür sei der Einsatz von Jody Krain. „Wir sind unglaublich stolz auf sie, weil sie dem Mann geholfen hat, weil sie ihr Wissen eingebracht und sich getraut hat, den Erwachsenen zu zeigen, wie sie am besten helfen können.“
Umfrage zu Erster Hilfe
Laut einer Umfrage im Auftrag der Techniker Krankenkasse aus dem Herbst 2020 haben 93 Prozent der Menschen in Deutschland schon einmal an einem Erste-Hilfe-Kurs teilgenommen. „Allerdings: Bei fast jedem Vierten (23 Prozent) ist das mehr als 20 Jahre her. Bei den älteren Menschen ab 60 betrifft das sogar fast jeden Zweiten (46 Prozent)“, berichtet die Kasse. Sieben Prozent hätten angegeben, noch nie einen Erste-Hilfe-Kurs besucht zu haben. Die meisten Menschen hätten ihren letzten Kurs bei der Führerschein-Prüfung absolviert. In Skandinavien lernten bereits Kindergartenkinder, wie Erste Hilfe funktioniere, betonte der Vorstand der Kasse, Jens Baas. Das ziehe sich durch die Schule bis in die Arbeitswelt. Dieser Umgang müsse auch in Deutschland wachsen. 10.000 Menschen könnten so jährlich durch Sofortmaßnahmen in einer Notfallsituation gerettet werden.