Bremen Stadtteile Osterholz Verden Diepholz Delmenhorst Wesermarsch Oldenburg Rotenburg Cuxhaven Bremerhaven Niedersachsen

Gegen geringe Wahlbeteiligung Ausschuss: Schüler sollen sich intensiver mit Wahlen beschäftigen

Warum gehen Menschen nicht wählen? Für Quartiersmanager liegt es auch daran, dass Politiker wenig vor Ort sind. Experten setzen darauf, schon in der Schule gegen die geringe Wahlbeteiligung etwas zu tun.
31.01.2019, 06:00 Uhr
Jetzt kommentieren!
Zur Merkliste
Ausschuss: Schüler sollen sich intensiver mit Wahlen beschäftigen
Von Lisa Schröder

Politiker, Quartiersmanager, Schulen und Initiativen stellen sich alle dieselbe Frage: Wie gegensteuern angesichts der geringen Wahlbeteiligung in Bremen von zuletzt historisch tiefen 50,2 Prozent? Inga Neumann arbeitet schon seit zwei Jahrzehnten als Quartiersmanagerin in Huchting und beschäftigt sich lange mit dem Problem. Ihr Befund: „Die Menschen haben das Vertrauen in die Politik verloren.“ Das sei eine Entwicklung über viele Jahre. Die Bewohner ihres Stadtteils fühlten sich oft allein gelassen und dächten: Uns hört sowieso keiner. Warum soll ich zur Wahl gehen?

Wie dieses Gefühl entstehe, das sei „ein Konglomerat aus verschiedenen Dinge“, sagt Neumann. In Huchting fehlten etwa Schul- und Kitaplätze, Meldeangelegenheiten könnten zudem nicht mehr im Stadtteil erledigt werden. „Und die Politik ist vor Ort nicht präsent.“ Für viele Bewohner sei nicht spürbar, was die Politik für sie mache. Besuche gebe es zu wenig: „Mein Eindruck ist, nur wenn Wahlen anstehen.“ Darum gebe es kein Vertrauen, dass Sorgen ernstgenommen würden. Das sind für Neumann Gründe, warum Menschen aus dem Quartier nicht zur Wahl gingen. Gerade im Huchtinger Stadtteil Sodenmatt entschieden sich 2015 viele dazu. Die Wahlbeteiligung lag bei nur rund 37 Prozent.

Lesen Sie auch

Im Interview mit dem WESER-KURIER bezweifelte der SPD-Fraktionschef Björn Tschöpe, dass Besuche vor Ort etwas ändern. „Ich befürchte, das wird kaum Auswirkungen auf die Wahlbeteiligung haben“, sagte der Vorsitzende des Bürgerschaftsausschusses zur Wahlbeteiligung. Untersuchungen hätten gezeigt, dass es in Bremen sogenannte prekäre Wahlen gebe: Je schwieriger die Lebensverhältnisse, desto seltener stimmten Menschen bei einer Wahl ab. Der Auftritt der Parteien und ihre Inhalte haben damit nach Ansicht der Wissenschaftler nichts zu tun. Dennoch betonte Tschöpe: „Selbstverständlich müssen wir gerade auch dort, wo es den Menschen weniger gut geht, aktiv sein.“

Zusammenhänge zwischen Wahlbeteiligung und Lebenswelt

Versäumnisse der Politik sieht Aykut Tasan, Quartiersmanager für das Schweizer Viertel, aber wie Neumann genau hier. Die Bürgerschaftsabgeordneten sollten in den Stadtteilen sichtbarer sein: „Sie müssen sich mehr Zeit nehmen, um in die Quartiere zu kommen.“ Das passiere nur zum Teil. In einem Arbeitskreis beschäftigt sich Tasan mit Kollegen intensiv mit der geringen Wahlbeteiligung in Tenever und Osterholz. Organisiert hat die AG schon Wohnzimmergespräche mit Bürgerschaftsabgeordneten oder Polittalks. Der Quartiersmanager hält solche Formate für sinnvoll.

Zusammenhänge zwischen der Wahlbeteiligung und der Lebenswelt der Menschen sieht Aykut Tasan aber auch: Im Schweizer Viertel müsse ein Großteil der Menschen mit wenig Geld auskommen. Das führe dazu, dass der Blick in die Zukunft angesichts der Sorgen bei vielen oft nur bis zum Wochen- oder Monatsende reiche.

Lesen Sie auch

Thomas Köcher, der Leiter der Landeszentrale für politische Bildung Bremen, stimmt der Bedeutung von Bildungsgrad und Einkommen bei der Frage, ob jemand wählt, ebenfalls zu. Doch ganz klar spiele genauso das Milieu eine wichtige Rolle. „Wenn mein Umfeld Interesse an Politik hat, meine Eltern immer wählen gegangen sind, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich wählen gehe, sehr viel höher.“ Ohnehin, macht Köcher deutlich, sei die Forschungslage „dünn“ und Rückschlüsse darum schwierig. „Wir reden immer über Wahrscheinlichkeiten. Das sind nur Annäherungen.“

Der Ausschuss zur Wahlbeteiligung möchte mit einem neuen Projekt eine Wende bringen. Bremer Schüler sollen sich kurz vor Wahlen intensiv mit ihr beschäftigen und anschließend in der Schule ihre Kreuze machen können. Bis es so weit ist, müssen noch rechtliche Fragen geklärt werden. Köcher sieht die Idee etwas skeptisch. „Die Kernerarbeit muss zunächst politische Bildung in den Schulen sein. Ich bin überhaupt kein Freund einer Ausweitung der Projekteritis“, sagt er. Das auch in Bremen schon seit vielen Jahren umgesetzte Planspiel Juniorwahl, bei dem eine Wahl in Schulen simuliert wird, könne ebenfalls nur dann Erfolg haben, wenn die Schüler vorbereitet seien. „Das muss auf fruchtbaren Boden fallen und sollte nicht wie ein Ufo in den Unterricht hineinplatzen.“

Enthaltung muss möglich sein

Sicher könne die Auseinandersetzung mit der Wahl sinnvoll sein und das Thema Wahlen sogar in die Familien bringen. Doch direkt in der Schule den Urnengang unternehmen? „Das hätte bei mir zu einer Ablehnung geführt.“ Schließlich müsse es auch möglich sein, sich seiner Stimme zu enthalten. Generell sieht Köcher im Plan des Ausschusses allein nicht den notwendigen „klaren Aufruf zur Stärkung der politischen Bildung“.

Melanie Wielenberg, Schulleiterin der Berufsschule Helmut Schmidt in Tenever, findet es in jedem Fall wichtig, Schüler früh mit den Wahlen in Berührung zu bringen. Alleine kämen die Schüler nicht darauf, sich damit auseinanderzusetzen. „Das ist weit weg von den Jugendlichen. Es gibt die Meinung: Das können wir eh nicht beeinflussen.“ Der Anstoß käme manchmal zu spät. Im Politikunterricht seien die Wahlen verankert. Die Berufsschule beteiligt sich zudem schon seit Jahren an der Juniorwahl. Warum und wie gewählt werde, darauf werden die Schüler im Vorfeld vorbereitet. Klar sei auch, dass dann niemand verpflicht werde, wählen zu müssen. Für die Juniorwahl haben sich nach Angaben der Bremer Bildungsbehörde bereits 53 Schulen angemeldet.

Lesen Sie auch

Die Landeszentrale für politische Bildung will kurz vor den Bürgerschaftswahlen im Mai einen eigenen Impuls setzen – und quasi Wahlkampf an der Haustür führen. In Gröpelingen wollen die Mitarbeiter als Wahlscouts bei den Bewohnern zuhause klingeln und über den Wahltermin informieren. „Wir berufen uns dabei auf Studien, die sagen, genau darum geht es: Wahlen sind nicht nur eine Stimmabgabe, sondern ein sozialer Akt, auf den man hinweisen muss“, sagt Thomas Köcher. Gerade jetzt müssten Politik und Parteien es ernstnehmen, zu vermitteln, wie Demokratie funktioniere, welche Funktion Wahlen hätten. „Wir stehen wirklich vor krisenhaften Erscheinungen der parlamentarischen Demokratie.“

Im Projekt „Wohnen in Nachbarschaft“ (Win) sieht Inga Neumann für Huchting viele Chancen, um mit Bewohnern ins Gespräch zu kommen. Dort sei man ihnen „ganz nah“. Allerdings müsste die Arbeit gestärkt werden, macht die Huchtinger Quartiersmanagerin klar: „Da brauchen wir noch mehr Unterstützung für unsere Ideen.“ Gerade zu den Wahlen ließe sich da viel machen.

Zur Startseite
Mehr zum Thema

Das könnte Sie auch interessieren

Rätsel

Jetzt kostenlos spielen!
Lesermeinungen (bitte beachten Sie unsere Community-Regeln)