Herr Müller, für den Klimaschutz brauchen wir die Verkehrswende, heißt es allenthalben. Auch Bremen will weniger Autos auf den Straßen, tatsächlich sind es aber immer mehr. Wie erklären Sie sich das?
Carsten-Wilm Müller: Der erste Grund ist in dieser Zeit sicherlich Corona. Die Menschen versuchen, Nähe zu vermeiden und steigen lieber ins Auto als in Bus oder Bahn. Der eigene Wagen garantiert Sicherheit und Unabhängigkeit, er bekommt so noch mehr Wert als ohnehin schon.
Das Auto als feste Burg, auch als Fetisch?

Professor Carsten Wilm-Müller von der Hochschule Bremen.
So würde ich das nicht bezeichnen, es geht aber in die Richtung. Ich weiß nicht, wie alt Sie sind, aber in meiner Generation hat das Auto noch diese Bedeutung, dass man es nicht nur benutzen, sondern auch besitzen will.
Kann ich bestätigen.
Sehen Sie. Bei den Jüngeren ist das schon ein bisschen anders, bei den ganz jungen Erwachsenen in der Stadt sowieso. Die haben oft keinen Führerschein, und wenn doch, besitzen sie nicht unbedingt einen Wagen. Das dauert natürlich, bis so ein Verhalten durchschlägt, perspektivisch wird es dadurch aber weniger Verkehr geben.
Noch aber schwillt die Fahrzeugflut weiter an. Ist es da nicht neben der Spur, wenn Bremen eine autoarme oder autofreie Innenstadt propagiert?
Nein, das glaube ich nicht. Man darf ja nicht nur reagieren und neue Straßen bauen, sondern sollte auch agieren. Dem Menschen muss die Möglichkeit zur Wahl geschaffen werden: Fahre ich lieber Auto, Bus, Bahn oder Fahrrad? Womit bin ich flexibler? Was spart mir Zeit? In der Hinsicht sieht es beim ÖPNV in Bremen eben noch nicht so gut aus. Nehmen Sie die Anbindung von Bremen-Nord. Oder die Kosten für einen Einzelfahrschein der Straßenbahn; er ist so teuer wie kaum irgendwo sonst in Deutschland. Bremen verfügt über ein relativ stark ausgebautes Straßenbahnnetz, liegt beim ÖPNV-Anteil aber nur knapp über dem Bundesdurchschnitt. Da ist also noch viel Potenzial.
Die Bremer Enquetekommission zum Klimaschutz peilt mehrheitlich eine rigorose Minderung des Autoverkehrs an. Die SPD hält das für falsch und über-ambitioniert. Wie sehen Sie das?
Das ist wie mit der Gradzahl bei der Erderwärmung – wichtig ist erst einmal, dass man Ziele formuliert. Als ich sah, was sich die Kommission beim Autoverkehr vorgenommen hat, war ich zunächst baff: So schnell, so viel? Ich kann das letztlich aber durchaus nachvollziehen. Andererseits verstehe ich auch die SPD.
Sie wollen sich nicht festlegen.
Nein, wieso auch? Ich neige nicht zu Extremen. Es ist doch zu begrüßen, wenn in der Verkehrspolitik ein Prozess in Gang kommt. Zwei Seiten – die eine argumentiert mehr grundsätzlich, die andere aus der Praxis heraus. Rede und Widerrede, am Ende wird es einen Kompromiss geben. Das ist doch normal und sehr demokratisch.
Das Auto, der ÖPNV – fehlt noch das Fahrrad. Bremen ist eine Fahrradstadt, wird oft gesagt. Dabei stagniert der Anteil des Radverkehrs seit mehr als zehn Jahren. Und mit den versprochenen Premiumrouten ist es auch nicht weit her.
Stimmt, Bremen verharrt bei einem Radanteil von rund 25 Prozent. Da ist aber Stagnation auf einem Niveau, um das uns andere Städte beneiden. Und zu den Premiumrouten: Natürlich wäre es schön, wenn Bremen ein System mit Radschnellwegen hätte, das die Stadt mit dem Umland verbindet. Viele Pendler würden vom Auto umsteigen. So etwas dauert aber, und ich bin anders als Sie nicht enttäuscht darüber. Am Ende könnte das Ergebnis viel besser sein, weil die ursprünglichen Pläne durch die langen und tiefen Diskussionen verfeinert wurden.