Zu den untrüglichen Zeichen des zunehmenden Alters, die ich an mir beobachte, zählt eine erstaunliche Verschiebung der Zeitachsen. Heißt: Je kürzer die Restlaufzeit, desto größer der Raum, den die Vergangenheit im Bewusstsein einnimmt. Und wenn es diese Woche einen Tag gegeben hat, der zur Stützung dieser These beigetragen hat, dann war es der Dienstag.
Er begann mit der Nachricht, dass in Bremen bald nichts mehr so sein wird, wie es mal war – jedenfalls nicht, wenn es um die Wurst geht. Kiefert schließt zum Ende des Monats seinen letzten, in aller Formschönheit unbedingt zu würdigenden Imbisspavillon in der Bahnhofstraße. Eine niederschmetternde Nachricht! Denn damit wird ein Stück Tradition des 0421-Lands endgültig zum Fall für Nostalgiker wie mich. Für die zählte ein Stadtbummel früher nur, wenn es auf dem Heimweg neben dem Aufgang zur Straßenbahn im Brill-Tunnel bei Kiefert noch eine Wurst gab. Nun ist der aus stadtplanerischen Gründen verrammelte Brill-Tunnel schon lange Vergangenheit. Doch dass sich in der Gegenwart auch das Bahnhofsumfeld mit all seiner Drogen-, Gewalt- und Kriminalitätsproblematik nicht nur für Wurstbräter zu einem Ort ohne belastbare Zukunftsperspektive entwickelt hat, ist eine andere Geschichte. Und die liest sich nicht gut.
Dafür geht es aber ja andernorts aufwärts. Etwa mit dem früheren Bundeswehrhochhaus in der Falkenstraße. Als ich dort Dienstag vorbeikam, staunte ich abermals über die Fortschritte, die das Gebäude bei der Transformation zum innenstadtnahen Wohnturm macht. Zumal meine Erinnerungen daran ganz andere sind: Irgendwo auf den 13 Etagen musste auch ich mich beim Kreiswehrersatzamt einst als Bremer Jungmann im Zuge der Musterung bei heruntergelassener Hose noch der berüchtigten Aufforderung „Husten Sie mal!“ stellen.
Offenbar habe ich der Bundeswehr damals aber so schlecht was gehustet, dass es nie zu einer Karriere beim Militär reichte. Das entschied stattdessen, dass die Verteidigungsbereitschaft der Nation bestimmt von meinem wehrpflichtigen Wirken als Stromerzeugungsanlagenmechaniker profitieren würde. Was insofern Humor bewies, als dass meine beiden linken Hände sich bis heute jeder Form der Mechanik erwehren und mein Verständnis von Stromerzeugung sich darauf beschränkt, dass da was aus der Steckdose kommt.
Wie passend, dass ich an jenem erinnerungsduseligen Dienstag zu Hause eine Postkarte der Bundeswehr im Briefkasten vorfand. Darauf prangte vorne mein Namensschild, umrahmt vom typischen Tarnfleckmuster; auf der Rückseite die verheißungsvolle Aufforderung, mich umgehend über Chancen und Perspektiven bei der Truppe zu informieren. Ich hatte die genannte Internetadresse www.karrierekaserne.de fast schon eingetippt, als ich sah, dass die Karte an meine Tochter adressiert war. Die ist mit ihren 16 Jahren offenbar zukunftsträchtiger als ich. Zumal sie als Vegetarierin auch keine Wurst isst. Weder bei Kiefert noch sonstwo.
Tagebucheintrag: Sollten wir uns an den Abschiedstagen zufällig am Kiefert-Pavillon treffen: Ich bin derjenige, der nach Senf verlangt. Ketchup zur Bratwurst geht doch nicht ernsthaft.