Christbaumkugeln, Lichterketten, Lametta: In den Wochen vor dem Weihnachtsfest ist man den Anblick gewohnt. Im Hochsommer eher nicht. „Kann man das denn kaufen?", lautet dann oft die ungläubige Frage. Die Antwort: Man kann. Weihnachten ist alle Jahre wieder eine zeitlich begrenzte Saison. Doch für die Gefühle, die damit verbunden sind, ist die Kundschaft der „Weihnachtsträume" durchaus ganzjährig empfänglich. Wer den Laden an der Marterburg betritt, nimmt eine Weile Abstand vom Alltag und seinen Sorgen.
„In diesem Jahr spüren wir das ganz besonders“, sagt Olaf Nehlsen. Medieninteresse ist er gewohnt. Die Zahl der Reporter und Fernsehteams, die an seine Tür klopften, hat er nicht gezählt. Das Geschäftsmodell ist so ungewöhnlich, dass es überregional Aufmerksamkeit weckt. „Bisschen verrückt“, sagt der 56-Jährige, aber es klingt liebevoll. Fast unvermeidlich kommt dann irgendwann die Frage, was es denn in dieser Saison über neue Trends zu sagen gäbe. Gleich vorweg: Man kann sie sich sparen.
Denn damit ist er ein einziges Mal auf die Nase gefallen. Das war im Januar vor neun Jahren, beim Besuch seiner ersten Weihnachtsmesse, bei der Trendpropheten vorhersagten, dass in der kommenden Weihnachtszeit kupferfarbene Dekorationen der allerletzte Schrei sein würden. Vertrauensvoll deckte er sich ein – und blieb auf dem Sortiment sitzen. „Das waren alles Ladenhüter“, erzählt Nehlsen, und ärgert sich noch heute. Ebenfalls nicht vorhersehbar war wenige Monate zuvor, dass er und seine Frau Victoria Petre in die Weihnachtsbranche schlittern würden. Denn eigentlich waren die beiden ja auf der Suche nach einem passenden Standort für die Modeboutique, die Petre eröffnen wollte. Das Objekt an der Marterburg wurde frei, man kam zur Besichtigung, erlag seiner Magie und dem Charme der Vorbesitzerin. So schnell ging das. „Wie die Jungfrau zum Kind“, sagt Nehlsen. „Am nächsten Tag hatten wir einen Weihnachtsladen.“
Seit fast 30 Jahren gibt es die „Weihnachtsträume" im Schnoor. Sie waren die Herzensangelegenheit von Ursel „Uschi" Fritz. Die Bremerin – „eine besonders liebenswerte Person", so Nehlsen – war jahrelang eine feste Größe auf dem Bremer Weihnachtsmarkt. Mitte der 1990er-Jahre beschloss sie, mit ihrem Sortiment an der Marterburg sesshaft zu werden. „Bisschen verrückt", sagt Nehlsen – aber gerade darum etwas Besonderes. Fritz, die im Mai 2020 im Alter von 78 Jahren verstarb, wurde sogar selbst Trendsetterin. Ihre „Hänger" – mit Glitzer und Glimmer schimmernder gold- und silberfarbener Baum- und Fensterschmuck in Form von Sternen, Schneeflocken, Zapfen oder orientalisch anmutenden Ornamenten – gehören zu den Bestsellern im Laden. „Sie hatte damals von den Herstellern Rohlinge gekauft, selbst verziert, und anschließend nach ihren Vorgaben in Produktion gegeben", erzählt Nehlsen.
Rund 200.000 Füße bummeln jährlich über die 400 Jahre alten mächtigen Eichenbohlen des einstigen Getreidespeichers. Die meisten gehören Touristinnen und Touristen, die durch den Schnoor schlendern und zufällig auf das unscheinbare Haus stoßen. „Viele kommen aber auch ganz gezielt hierher, weil sie vorher von uns gelesen haben“, erzählt Nehlsen. Im Halbdunkel, erleuchtet nur vom sanften Licht der üppigen Kronleuchter und Lichterketten, fällt der Blick zunächst auf eine Grotte – ein freigelegtes, rund 800 Jahre altes Stück der Bremer Stadtmauer. Es ist dieses historische Ambiente, das einen besonderen Zauber ausübt, sagt Nehlsen. Einen guten verkaufsfördernden Anteil haben aber auch die gut gelaunten Mitarbeiterinnen. Manche von ihnen sind schon seit Jahrzehnten mit dabei und um einiges über das Ruhestandsalter hinaus. „Wir sind dankbar und froh über unsere Damen“, bestätigt der Chef.
„Trend: Das Wort hängt mir zu den Ohren hinaus“, sagt er. „Trend ist, was gefällt." Manche Kunden lassen sich von seinem Team Jahr für Jahr den kompletten Christbaumschmuck zusammenstellen. „Die meisten ergänzen aber ihren heimischen Bestand“, erklärt Nehlsen. Das können einzelne Akzente in peppigen Farben und originellen Formen sein, oder auch ein paar klassische Kugeln, die es hier in hunderterlei Varianten gibt. Falls jemand fragt – und das tun viele: „Wir führen nur Glaskugeln. Keine einzige Plastikkugel. Die wird's hier nie geben", betont Nehlsen. Weltberühmt sind die Kugeln aus den Traditionswerkstätten in Lauscha – der „Wiege des gläsernen Christbaumschmucks", wie es heißt. Glasbläser und -maler aus Polen und Tschechien fertigen exklusiv die Kugeln der hauseigenen Charisma-Kollektion.
Auch die Kugel mit dem Motiv der Bremer Stadtmusikanten „gibt's nirgendwo anders“, erklärt der Chef. Die Zahl der Artikel dürfte in die Tausende gehen, und immer mal kommt etwas Neues hinzu. Einen Online-Shop zu bestücken, die Ware zusammenzustellen, zu verpacken und auf den Weg zu bringen, wäre aufwendig, und ist nicht nur deshalb keine Option. „Fast jeder dritte Kunde fragt, ob wir die Sachen verschicken. Aber wir möchten uns diese Besonderheit erhalten.“
Man kann hier also, sofern man möchte, weihnachtliche Stimmungsmacher auch im Juli oder August kaufen. Bedürfnis und Umsatz steigen allerdings – wenig überraschend – erst ab ungefähr Ende Oktober, sagt Nehlsen. Dass im Hochsommer die meisten Besucherinnen und Besucher nur mal zum Gucken und Staunen kommen, nimmt man gerne in Kauf. „Wir leisten uns das", sagt der Kaufmann. „Wenn wir sehen, dass die Leute den Laden mit einem Lächeln im Gesicht verlassen, hat sich der Aufwand gelohnt." Und außerdem: In der Vorweihnachtszeit sieht man sich ja meistens auch wieder.