
Überall an den steilen Wegen und engen Gassen in der Rocinha sieht man die kleinen Figuren mit den großen Köpfen und flügelähnlichen Armen. In gelb, in blau, in rot, in allen Farben. Sie sind so etwas wie das Markenzeichen der großen Favela im Südwesten Rios. Die Rocinha liegt zwischen den hippen Vierteln Copacabana und Ipanema auf der einen und dem Olympia-Stadtteil Barra da Tijuca auf der anderen Seite. Bis vor Kurzem galt: Wer diese engelähnlichen Figuren sah, der wusste, er muss in der Rocinha sein, einer der größten Favelas der Olympiastadt.
Der Schöpfer dieser putzigen Figuren sagt: „Ich muss einfach überall mit der Dose sprayen, das ist wie ein Zwang“. Wark heißt eigentlich Marcos Rodrigo, ist ein Kind der Rocinha, hier wurde er vor 30 Jahren geboren. Mit 15 sprühte er „Pichaçãos“, Buchstaben und Symbole. Da bekam er seinen Spitznamen weg, denn kein Straßenkünstler ohne Künstlernamen. Dann freundete er sich mit Hip-Hoppern an, erfand irgendwann diese Engel und sprühte sie überall hin. Und sie gefielen den Menschen, er wurde angesprochen, bekam Aufträge, sie auch außerhalb der Rocinha an Häuser und Wände zu malen. Wark wurde eingeladen, in Galerien auszustellen. Fast alles hat er abgelehnt: „Ich bin ein Produkt der Rocinha. Hier will ich meine Kunst verbreiten“.
Man trifft Wark in einem kleinen Laden in einer Seitengasse. Hier verkauft er seine Bilder und T-Shirts mit seinem Lieblingsmotiv. Kaum jemand, der in einer Favela groß wird, vergisst, woher er kommt. Sportler wie die Judo-Goldmedaillen-Gewinnerin Rafaela Silva oder Künstler wie Wark oder der Straßenmaler Acme aus der Favela Pavão-Pavaõzinho bleiben ihrer Herkunft aufs Engste verbunden.
Wark weiß, dass er Glück hatte. Er hat sein Talent entdeckt und wurde gefördert. Kinder in Favelas wie der Rocinha wachsen oft ohne Chancen und Perspektiven auf – und meistens bleibt nur der Sport, die Musik oder die Kriminalität, den Weg heraus zu schaffen. Die Kunst ist eine relativ neue Möglichkeit, dem Kreislauf von Drogen oder Arbeitslosigkeit zu entfliehen. Wark selber gibt Kunst-Kurse für Kids aus der Rocinha, sucht nach Talenten oder bietet Zeitvertreib. „Ich will zeigen, dass nicht jeder ein Krimineller ist, der in einer Favela groß wird.“
In der Rocinha leben offiziell 80 000 Menschen. Aber so genau weiß das niemand, schließlich sind viele Unterkünfte ohne Genehmigung gebaut. Vermutlich sind es 200 000 Menschen, die dicht gedrängt aufeinander hocken. Die Favelas entstanden, weil über die Jahrzehnte Millionen Migranten aus dem ganzen Land in die boomende Metropole kamen, die Arbeit und Auskommen versprach. Und fast alle ließen sich auf den grünen Hügeln rund um Rio nieder. Rio ist eine Stadt krasser Gegensätze: Oben und unten, Wasser und Berge, arm und reich, Favela und vornehm. Und alles liegt, das ist das Besondere an der Metropole, manchmal keine hundert Meter auseinander. Auch von den Aussichtspunkten der Rocinha hat man einen atemberaubenden Blick auf den Reichtum Rios. Über Jahrzehnte waren das getrennte Welten. Ein Mittelklasse-Brasilianer setzte nie einen Fuß in eine Favela, sie galten als Brutstätte der Kriminalität.
Wark stört, dass man nur das über Viertel wie die Rocinha erzählt. Und er will das mit seiner Kunst ändern. Unter anderem deswegen geht er jetzt auch mal runter von seinem Hügel, malt und sprüht seine Bilder und Figuren in der Stadt und hat sogar ein Kunstwerk auf dem Olympia-Boulevard im Zentrum Rios geschaffen. So sehen die Einwohner der Stadt, dass die von da oben aus den geächteten Gegenden auch was können. Die Engelsfiguren sieht man zunehmend so auch in ganz Rio. Übrigens – darauf besteht Wark – seien seine Engel keine religiösen Figuren. Es sind Weiterentwicklungen seiner ersten Arbeiten: „Ein Engel bringt Licht in das Dunkel des Lebens.“