Holger Schmieding: Die Bundesregierung hat recht. Wir selbst hatten schon einige Zeit vorher die Prognose von einem Prozent herausgegeben. Durch die derzeitigen Risiken zeigt die Tendenz deutlich nach unten. Das Jahr 2019 wird also schwierig. Erst im Frühjahr oder Sommer können wir sehen, ob es denn auch wieder besser wird. Die Konjunktur kühlt sich derzeit erheblich ab.
Ist es Ihrer Meinung nach jetzt wirklich soweit? Denn gefühlt war es ja seit 2015 so: Nach jedem guten Jahr sagte man sich, dass das so nicht weitergehen kann. Und dann wurde das Folgejahr noch besser.Das Ende der Fahnenstange werden wir noch nicht erreicht haben. Denn ich denke, dass wir die Schwierigkeiten, die von außen auf uns hereinbrechen, im Laufe des Jahres überwinden können. So erwarte ich, dass sich der Handelsstreit mit den USA letztlich entspannen wird. Auch die USA können sich auf Dauer keinen Handelskrieg leisten. Zudem wird China seine Konjunktur wieder mithilfe eines neuen Stimulus stabilisieren, der zumindest zeitweilig wirken wird. Auch dadurch werden sich unsere Export-Aussichten wieder aufhellen. Die gesamte Konjunktur kann dann wieder Tritt fassen – aber eben erst ab Frühjahr oder Sommer.
Dabei macht es aber den Eindruck, dass die klassische Konjunkturkurve von acht Jahren längst hinfällig ist.Die acht Jahre sind ein Durchschnittswert, auf den man im Laufe der Zeit vielleicht auch wieder kommen wird. Aber wir hatten 2009 einen derartigen Einbruch, dass der Wiederaufschwung danach auch länger dauern kann als die üblichen sieben oder acht Jahre. Zurzeit ist das, was wir an Konjunkturrückschlag erleben, keiner, der aus der Wirtschaft selbst kommt – im Wesentlichen ist er Ausdruck politischer Probleme von anderswo, und dabei vor allem der Handelskriege.
Das hat auch in China die dortige Wirtschaftsschwäche weiter verstärkt. Jenseits dieser Probleme, die uns von außen treffen, sehen wir in der deutschen Wirtschaft oder in der Wirtschaft der Eurozone bisher keine erheblichen Ermüdungserscheinungen der Konjunktur.

Holger Schmieding ist seit 2010 Chefvolkswirt von Berenberg und einer der bekanntesten deutschen Bank-Ökonomen. Mehrfach wurde er für die Genauigkeit seiner Vorhersagen ausgezeichnet.
Wir haben noch nicht die große Inflation, die bekämpft werden müsste. Wir haben auch noch nicht den großen Kreditboom, der dann zusammenbrechen müsste. Eigentlich könnte der Aufschwung aus heimischer Sicht noch einige Jahre weitergehen.
Für welches Jahr erwarten Sie denn dann das nächste Konjunkturtief nach dieser Zeit des Aufbruchs?Wenn wir großes Pech haben, sind wir im Sommer 2019 drin. Das wäre der Fall, wenn Trumps Handelskrieg gegen Europa schärfer und schärfer wird. Wenn uns das erspart bleibt, dann wird es zunächst einen Wiederaufschwung geben. Dann haben wir vielleicht 2022 wieder den Zeitpunkt für eine ganz normale konjunkturelle Rezession, für eine Bereinigungskrise.
Nehmen wir mal den Sonderfall von 2009 beiseite. Wir können uns ja kaum noch an die letzte Konjunkturdelle erinnern.Um die Jahre 2001/2002 hatten wir eine kleinere Rezession. Das ist das, was in einigen Jahren mal wieder fällig wäre, und dann vielleicht 2022. Die Jahre Ende 2008 und 2009, das war eine völlige Sondersituation. Ich nenne das einen Weltfinanzinfarkt mit dem Zusammenbruch der Weltfinanzen. Das hatte damals eine Schockstarre quer durch die Wirtschaft der westlichen Welt ausgelöst. Einen solchen Unfall wird es wohl wieder erst in ein bis zwei Generationen geben.
Welche Auswirkungen wird das Ihrer Meinung nach auf den Dax und die deutschen Aktienwerte haben?Wenn das Konjunkturbild so eintritt, wie wir das erhoffen, dann wird nach einem ziemlich kalten Winter wieder ein besserer Frühling und Sommer kommen. Dann haben die Aktien im weiteren Jahresverlauf auch wieder einiges an Spielraum nach oben. Das wird natürlich nicht ewig gehen. Aber wir haben gute Chancen, dass wir in diesem Konjunkturzyklus die alten Höchststände nochmal wieder erreichen können.
Warum?Die Gewinnlage der Unternehmen ist eigentlich recht gut. Wenn die Ausfuhr, die jetzt kurzfristig zurückgeht, wieder läuft, dann werden wir sehen, dass neben der weitgehend stabilen Binnenwirtschaft auch wieder eine gute Außenwirtschaft dazukommt. Die Phase jetzt würde ich als „Bottom Fishing“ bezeichnen – also als einen Zeitpunkt, zu dem es schlecht läuft und den man für den Aufbau von zukunftsträchtigen Positionen nutzen sollte. Ich sehe die Lage jetzt nicht als die vor dem großen Ausverkauf der Aktien.
Aber von Fonds, die als Währung im britischen Pfund geführt werden, würden Sie derzeit wahrscheinlich lieber die Hände lassen, oder wie sehen Sie das?Das britische Pfund ist derzeit etwas für Mutige. Dabei muss man sich – wie so oft im Leben – des Risikos bewusst sein. Aber gerade im britischen Pfund kann man sich durchaus für das Risiko entscheiden. Es ist zwar denkbar, dass es beim Brexit komplett schief geht. Aber wahrscheinlich ist immer noch, dass die Briten auch nicht so dumm sein werden und sich von ihrem größten Kunden, der EU, einfach verabschieden, ohne das Verhältnis auch nur irgendwie geklärt zu haben.
Ich halte es für wahrscheinlich, dass in letzter Minute ein Deal herauskommt, der den Brexit abmildert und die wirtschaftlichen Folgen für beiden Seiten in Grenzen hält. Wenn das so ist, dürfte es einen Seufzer der Erleichterung geben quer durch die britischen Finanzmärkte. Und das Pfund würde einen Hüpfer nach oben machen.
Für wann rechnen Sie denn in der Eurozone mit dem Ende der Niedrigzinsphase?Das wird noch ganz lange dauern. Wenn wir Glück haben, wird die Europäische Zentralbank ihren wichtigsten Leitzins – den Refinanzierungszins – im Frühjahr 2020 anheben können. Vorher wohl nicht. Zum einen haben wir einfach nicht die entsprechende Inflation, die man bräuchte, um eine Zinsanhebung zu rechtfertigen. Zum anderen ist die Konjunktur derzeit wieder so wackelig, dass sich heute der Gedanke für eine Zentralbank an eine Zinserhöhung schlicht und einfach verbietet. Im Nachhinein kann man von Glück reden, dass die Europäische Zentralbank die Zinsen vor einem halben Jahr nicht erhöht hat. Dafür hätte sie nun Prügel bezogen.
Das klingt nach einem Lob von Ihnen für den EZB-Chef Mario Draghi.Die EZB hat als klaren Auftrag, die Preise stabil zu halten. Das hat sie erfolgreich geliefert. Ihre Geld- und Zinspolitik hat dazu entscheidend beigetragen. Das Ergebnis: Noch nie in Deutschland war die Inflationsrate so dauerhaft niedrig und stabil wie in der Zeit seit 1999. So wie die Bundesbank früher ihre Arbeit gemacht hat, macht die EZB hier ihre Arbeit gut. Deshalb einen herzlichen Dank an Mario Draghi! Alles andere ist dann Meckern am Detail.
Dabei ist die Frage zunächst: Was will Macron? Er wird wohl politisch entscheiden können, ob er den Chef der Europäischen Kommission oder den Chef der EZB benennen möchte. Wenn er sich für die EZB entscheidet, dann wird es wahrscheinlich der jetzige Präsident der französischen Zentralbank, François Villeroy de Galhau. Er stammt übrigens aus der Familie von Villeroy & Boch. Er wäre ein geeigneter Kandidat, zu allem spricht er auch noch gut Deutsch im Gegensatz zu Mario Draghi. Der EZB-Chef sollte möglichst jemand sein, der in seinem Land schon mal eine Zentralbank geleitet hat.
Und wenn sich Macron für den Kommissionspräsidenten entscheidet?Dann wäre ein deutscher Kandidat Jens Weidmann. Der hätte es aber schwer mit der Unterstützung aus den anderen EU-Ländern. Das liegt an seiner harten Linie, die er in der Vergangenheit gefahren hat. Deshalb würde es einen Ersatzkandidaten geben. Da wäre mein Favorit der Finne Olli Rehn. Er ist jetzt in seinem Heimatland Zentralbankchef und ist als ehemaliger EU-Kommissar gut vernetzt. Dazu hat er es während der Griechenland- und Eurokrise geschafft, sich sowohl mit den Griechen als auch mit unserem damaligen Bundesfinanzminister Schäuble zu verstehen. Deshalb kann er ein so heterogen zusammengesetztes Gremium wie den Europäischen Zentralbankrat vermutlich gut führen.
Inwiefern fiebern Sie denn der US-Präsidentenwahl 2020 entgegen, in der Hoffnung, dass die Welt und die Wirtschaft danach wieder etwas verlässlicher wird?Das ist noch eine lange Zeit bis 2020. Erstmal hoffe ich, dass wir für 2019 die Handelskriege in den Griff bekommen. Ansonsten bleibt die Frage, ob sich nach der US-Wahl wirklich viel ändern würde. Wahrscheinlich müssen wir uns darauf einstellen, dass die US-Politik auch künftig weniger zuverlässig sein wird – egal, ob Trump Präsident bleibt oder ein Kandidat der Demokraten gewinnen wird. Denn es sieht nicht danach aus, dass die liberale Ostküsten-Elite der Demokraten, die Europa wohlgesonnen ist, bei der Suche nach einem Kandidaten aus ihrer Partei vorne wäre. Das kann dann durchaus vom einen Extrem wie Trump in ein anderes Extrem gehen.
Die Fragen stellte F. Schwiegershausen.Holger Schmieding, 61, ist seit 2010 Chefvolkswirt von Berenberg und einer der bekanntesten deutschen Bank-Ökonomen. Mehrfach wurde er für die Genauigkeit seiner Vorhersagen ausgezeichnet. Er hat unter anderem am Kieler Institut für Weltwirtschaft und beim Internationalen Währungsfonds gearbeitet und war als Chefvolkswirt Europa für die Bank of America und Merrill Lynch tätig.