Ein mittelalterliches Relikt in Vegesack? Hat hier einmal eine echte Ritterburg gestanden? Kinder turnen auf der Ruine herum, spielen Burgfräulein und Ritter, andere tollen den Hügel hinunter. Es mutet irgendwie eigenartig an, denn so richtig passt das Bauwerk auf dem Grohner Berg nicht an diesen Ort. „Hier täuscht leider tatsächlich der Schein“, sagt Jasmin Nitzschner lächelnd, „denn mit dem Mittelalter und einer echten Burgruine hat das hier gar nichts zu tun.“
Nicht? Aber warum steht dieses täuschend echt wirkende Mauerwerk dann auf dem Hügel? „Man nennt es eine Staffage, das bedeutet in der Gartentechnik Blickfang“, erläutert sie, „also ein Gebäude, das malerisch anmutet und in eine Gartenlandschaft integriert wird.“
Dieser Turm wurde also einfach so zum Vergnügen und fürs Auge dort hingebaut? „So ist es“, bestätigt die Stadtführerin. „Aber der Turm hat trotzdem eine Geschichte. Hinter dem alten Hafenspeicher lag früher das Privatgrundstück der bedeutenden Vegesacker Werftfamilie Johann Lange.“ Dessen Sohn, benannt nach seinem Vater Johann Lange (1804-1876), ließ das Areal um 1840 im Stil eines englischen Landschaftsgartens anlegen. „Es war damals tatsächlich eine Modeerscheinung, in den Parkanlagen künstliche Ruinen als Blickfang zu bauen“, erklärt Jasmin Nitzschner.
Sie holt aus ihrer Tasche ein Schreiben, zeigt auf einen Ausschnitt vom Landesamt für Denkmalpflege in Bremen und zitiert: „Sie, also die Ruinen, waren emotionale Stimmungsträger, die den Betrachter an den Verfall und die Vergänglichkeit des Daseins erinnern und ihn in melancholische Stimmung versetzen sollten.“ Jasmin Nitzschner verrät weiter, dass in dem Park vermutlich mehrere dieser künstlichen Bauten errichtet worden waren. „Heute ist aber nur noch diese zweigeschossige Turmruine im neogotischen Stil vorhanden.“
Obwohl das künstliche Gemäuer keinen echten Angriffen bei Kampfhandlungen ausgesetzt war, hat es doch mit einigen Widrigkeiten zu kämpfen gehabt. „Es war der Zahn der Zeit, der dem Turm zugesetzt hat“, meint Jasmin Nitzschner. Ungehinderter Wassereintritt über die Jahre ließ das Steinmaterial durchfeuchten, sodass eine Grundsanierung notwendig war, um das Bauwerk zu erhalten. Unter Einbindung öffentlicher Fördermittel wurde die Turmruine saniert. Seit 2012 steht sie unter Denkmalschutz.
Heute gehört das Relikt zu einem Areal eines Kinder- und Familienzentrums und steht inmitten eines Spielplatzes. „Jetzt können hier die Kinder eben Ritter und Burgfräulein spielen“, sagt Jasmin Nitzschner, „oder im Winter ganz unritterlich mit Schlitten den Hügel hinuntersausen.“ Die Turmruine wird Letzteres nicht stören, sie hat schließlich nie Ritter beherbergt.

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So geht’s zur Turmruine: Die Turmruine befindet sich an der Friedrich-Klippert-Straße 5. Am Wochenende kann das Bauwerk betreten werden, unter der Woche ist es nur von der Straße aus zu sehen.