Vor dem Hintergrund explodierender Energiepreise, der fieberhaften Suche nach Alternativen zur Abhängigkeit von russischem Gas und der sich zuspitzenden Klima-Krise stehen Möglichkeiten einer vernetzten, CO2-freien Wärmeversorgung derzeit hoch im Kurs.
Als ökologisch und ökonomisch sinnvolle Alternative zur Energie-Erzeugung stellte der Projektmanager der Bremer Klimaschutzagentur Energiekonsens, Werner Müller, bei einer Informationsveranstaltung in der Friedensgemeinde in der Humboldtstraße jetzt sogenannte kalte Nahwärmenetze oder Quartiersnetze vor, die ihm zu Folge hohe Effizienz, Unabhängigkeit und Versorgungssicherheit versprechen. Vereinfacht gesagt handelt es sich dabei um lokale Wärmenetze, bei denen ohne eine Heizzentrale mehrere Gebäude oder Straßenzüge direkt durch ein gemeinsames Leitungsnetz mit Wasser aus Erdwärmebohrungen versorgt werden.
Müller führte aus, dass die Stadt Wien vor Kurzem eine besonders innovative Variante realisiert habe. Dort wurde erstmals ein sogenanntes Anergie-Netz in Betrieb genommen, bei dem neben Erdwärmesonden viele Wärme- und Energiequellen genutzt werden, um damit ein Netz mit niedrigen Temperaturen zu betreiben. Als Wärmeerzeuger dienen Geothermie-Wärmepumpen. Photovoltaikstrom, Solarthermie oder auch Abwärme aus Gewerbe und Kühlanlagen können eingebunden und genutzt werden. Mit diesem klimaneutralen Leuchtturmprojekt in der Humboldtstraße könnte Bremen bundesweit das erste Pilotmodell starten.
Weshalb sind Quartiersnetze sinnvoll?
Ein Hauch von der damit verbundenen Aufbruchstimmung war auch bei der ersten Informationsveranstaltung in der Friedensgemeinde zu spüren. Den Stein ins Rollen gebracht hat Anwohner Philipp Metz, der nach eigener Aussage lieber heute als morgen sein Heizungssystem auf die Versorgung mit Erdwärme umstellen würde. Dafür hat er die besten Voraussetzungen, besitzt er doch ein privilegiertes Eckgrundstück in der Humboldtstraße, auf dem problemlos Bohrungen mittels Erdwärme-Sonden möglich wären. "Aber, wenn mehrere mitziehen würden, macht das wesentlich mehr Spaß, hat einen größeren Effekt und ist deshalb noch ökonomischer", blickte er optimistisch in die Zukunft und appellierte an seine Nachbarn: "Auch die Nachbarstraßen sind herzlich eingeladen, darüber nachzudenken und sich zu engagieren".
Ein Appell, der von der Nachbarschaft interessiert aufgenommen wurde, auch wenn es naturgemäß noch viele Fragen und Unsicherheiten gibt. Metz' Appell galt allerdings auch der Schwarmintelligenz aus der Anwohnerschaft: Auch Ingenieure und Anwälte seien gefragt genauso wie Politiker und Stadtteilparlamentarier. Helmut Kersting von der Linken und Peter Altvater von der Initiative Leben im Viertel wollen sich im Beirat Östliche Vorstadt dafür einsetzen. Die Prognose von Werner Müller: Bei einem Zusammenschluss zu einem Anergienetz auf Quartiersebene könnten sämtliche Bedarfe zu 100 Prozent gedeckt werden. Sein Fazit: "Die Nutzung oberflächennaher Geothermie mit Erdwärmesonden und saisonaler Wärmespeicherung im Untergrund ist hoch effizient". Und das ergebe, trotz der nötigen Investitionen, in der Summe große Kostenvorteile.
Um wieviele Bohrlöcher handelt es sich?
Pastor Bernd Klingbeil-Jahr signalisierte schon mal für die Friedensgemeinde, dass man dort sehr gern bereit wäre, weitere Flächen einzubringen, sei es für Bohrungen mit Erdwärmesonden oder für weitere Photovoltaik-Anlagen. Die Bürgersolar-Anlage, die die Friedensgemeinde vor zwölf Jahren auf ihrem Gemeindedach installieren ließ, habe sich inzwischen amortisiert.
Als möglicher Ort, um Erdwärmebohrungen vorzunehmen, wurde zudem der Grünstreifen vor dem Gesundheitsamt ausgemacht, das Gebäude eigne sich aber auch dazu, mit Photovoltaik-Anlagen versehen zu werden, so der Konsens. Solarstrom, um das Wärmepumpen-System zu betreiben, könnte beispielsweise von solchen Photovoltaik-Anlagen eingespeist werden. In der 900 Meter langen Humboldtstraße müssten 150 Bohrlöcher, alle sechs Meter ein circa 100 Meter tiefes Loch, pro Straßenseite gebohrt werden. Dafür ist eine Energieleistung von 50 Watt pro laufendem Rohrmeter erforderlich, um die Entnahme einer Heizleistung von jeweils 1500 Kilowattstunden auf jeder Straßenseite zu erzielen. Natürlich könnte mit entsprechender Genehmigung auch tiefer gebohrt werden und die Wärme-Ernte wäre größer.
Bis wann soll das Ziel Klimaneutralität erreicht werden?
Denn eines ist klar: Die Gasheizung ist nicht nur durch den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine ein Auslaufmodell, sondern weil ab dem Jahr 2038 laut Bericht der Bremer Klima-Enquete das Ziel der Klimaneutralität erreicht werden soll. Konkret bedeutet das: Weg von Öl und Gas, hin zu einem überwiegenden Anteil erneuerbarer Energien. Doch wie funktioniert das System nun? Die Bohrungen per Wärmesonde sind nach Einschätzung der Klimaschutzagentur relativ unkompliziert realisierbar und das nicht nur in Neubaugebieten, sondern auch in einem bereits dicht besiedelten, historischen Gebiet wie der Humboldtstraße. Um die senkrechten Bohrungen untereinander zu einem Netzwerk verbinden zu können, müssten Kunststoffröhren eingebracht werden. Werner Müller erläuterte im Folgenden die Funktionsweise sogenannter kalten Nahwärmenetze, auch Anergie-Netze genannt.
Wie funktioniert das Verfahren?
Mithilfe von Anergie kann eine dezentrale, thermische Vernetzung von Gebäuden, Wärmequellen und Wärmespeichern für nachhaltige Wärme-Gewinnung erfolgen. Dabei zirkuliert eine Trägerflüssigkeit, zum Beispiel Wasser, durch die gegen die umgebende Erde sicher vergossenen Bohrsonden. Dabei wird die Wärme aus dem Erdreich aufgenommen und Wasser auf zehn bis 15 Grad Celsius erwärmt. Das ist laut Müller warm genug, um damit die Wärmepumpen zu speisen. Die Sonden sind jeweils an die Zirkulationsleitungen angeschlossen, die horizontal vor den Häusern in geringer Tiefe frostfrei verlegt werden. An diese Versorgungsleitungen können sich die Anlieger bei Bedarf anschließen und mit eigenen Wärmepumpen die benötigten Heiztemperaturen erzeugen.
Mithilfe dieses gemeinsamen Versorgungsnetzes könnten momentane Wärmeüberschüsse und -defizite ausgeglichen werden. Müller erklärte, im Sommer könne die Wärme genutzt werden, um mittels zehn bis 15 Grad kaltem Wasser die Häuser und Wohnungen zu kühlen. Im Sommer werde also die Wärme über die Bohrsonden in der Erde gespeichert und in den Wintermonaten wieder genutzt. So werde die Erdwärmenutzung für alle, Verbraucher und Produzenten, effizient und kostengünstig möglich. Zudem stehe diese Art von Umweltenergie unabhängig jederzeit zur Verfügung.