Bremen. „Der Ort ist gefüllt mit Begriffen und Gefühlen. Glaube, Liebe, Schmerz, Sehnsucht, Frieden, Trauer oder Wehmut.“ Wenn Michael Weisser über den Riensberger Friedhof geht, entdeckt er Stimmungen, Farben, Zeugnisse von Menschen, Tiere und Töne. Und er war in den vergangen vier Monaten oft tagelang auf dem alten Friedhof in Schwachhausen unterwegs. Er hat diesen Teil der Bremer Geschichte und Gegenwart zu seinem Projekt gemacht.
„Bremen-Ansichten“ heißt sein übergeordnetes Heimat-Projekt, das nun um den Riensberger Friedhof erweitert wird. Von den Gesichtern der Stadt über den Bleikeller im Dom bis zum Bunker Valentin und dem Freimarkt und vielem mehr hat der Fotograf und Medienkünstler Michael Weisser in diesem Heimat-Projekt schon einige bremische Besonderheiten festgehalten. Es ist eine außergewöhnlich umfangreiche Arbeit, für die Weisser von der Bremer Wittheit im Jahr 2018 den Preis für Heimatforschung erhalten hat. Nun geht es ihm darum, den Riensberger Friedhof in einer künstlerischen Feldforschung zu erfassen.
Dafür wünscht sich der Medienkünstler die Mithilfe der Bremer Bürger. „Zur Aufarbeitung der Historie dieses Friedhofs und seiner Grabmale suche ich dringend Kontakt zu Bremer Familien“, sagt Weisser. „Die Literatur- und Quellenlage ist katastrophal. Es gibt nur einen alphabetischen Führer, und das Heft der Friedhofsverwaltung hat viele Fehler.“ Der Maler Arthur Fitger, der ebenfalls auf dem Riensberger Friedhof begraben liegt, sei eine wichtige Quelle für ihn, berichtet Michael Weisser. „Fitger hat die Künstler der Grabstellen notiert.“ Selbst im Wikipedia-Eintrag zum Friedhof sei einiges falsch.
Bremer Bürger sind nun aufgefordert, Bilder, Postkarten, Fotografien von Gräbern und Grabstellen an Michael Weisser zu schicken. Das Staatsarchiv, ein wichtiger Partner für Weisser bei seinem Projekt, nimmt ebenfalls historische Dokumente zum Schwachhauser Friedhof entgegen und leitet sie an den Künstler weiter. „Ich suche auch Geschichten und Dokumente beispielsweise zu den Architekten der Gräber, zu den Künstlern, zum Grabschmuck“, sagt Weisser.
Selbst Fotografien von Blumen sind ihm wichtig. „Es ist interessant, wie der Grabschmuck früher war“, sagt Weisser. „Gab es auch Blumen oder nur Kränze?“ Alles, was die Besitzer der Dokumente und Bilder zur Veröffentlichung freigeben, ist gefragt. Wenn möglich, wird um eine exakte Datierung der historischen Dokumente gebeten. Bei Bedarf kommt Weisser auch zu den Menschen nach Hause und fotografiert die Originale ab. Videos kann er allerdings bei seinem Projekt nicht berücksichtigen.
Weisser hat sich bei seinem Heimat-Projekt in einer sehr ausführlichen Fleißarbeit historischen Quellen im Staatsarchiv und in anderen Bremer Archiven gewidmet.„Ich habe alle Bremer Archive abgeklappert“, erzählt er. „Im Archiv der Bremer Tageszeitung habe ich einen Bericht über eine Bürgerschaftsdebatte über den Riensberger Friedhof gefunden.“ Der Bericht sei so spannend gewesen, dass er auch alles andere gelesen habe. „Es besteht die Gefahr, abzuschweifen“, räumt er schmunzelnd ein.
Bei seinem Quellenstudium kommt ihm zugute, dass er die alte Frakturschrift lesen kann. Zahlreiche historische Handschriften hat er schon im Laufe der „Bremen-Ansichten“ abgeschrieben und dem Staatsarchiv zur Verfügung gestellt. Auch seine Sammlung zum Riensberger Friedhof soll später dem Staatsarchiv zukommen. Außerdem plant Weisser dazu eine Ausstellung sowie eine Buchveröffentlichung.
Doch noch verbringt der Schwachhauser viel Zeit auf dem Friedhof. Anfang März, als sich die Corona-Epidemie abzeichnete, musste der Medienkünstler umdenken. „Es kann weltweit rumgehen, und dann werden alle meine Projekte lahmgelegt“: Diese Angst sei ihm damals durch den Kopf gegangen, erzählt er. „Was sollte ich dann machen?“ Er habe einen Ort gesucht, der durch eine Umfriedung eingegrenzt sei. Die Pandemie habe ihn außerdem angeregt, Gedanken über das Leben als Thema zu wählen. „Die Sinnsprüche an den Gräbern regen zum Nachdenken an“, erzählt Michael Weisser. „So bin ich auf den Riensberger Friedhof gegangen: ganz emotional.“
Eine Woche lang ist Weisser über den Friedhof flaniert und hat fotografiert, was er wahrnahm. „Es war ein Zauber an Farben“, erzählt er. Er fotografierte die alten Eichen, die Mammutbäume, die Spinnen und die Grabbeigaben, die Blüten und die Gestecke. Mehrere Hundert Fotografien hat er gemacht, vor allem mit seinem Handy. Den Fotografen fasziniert das Licht, das die Bäume immer anders erscheinen lässt. „Fast jeden Tag ist der Friedhof anders, damit verändert sich auch der Eindruck der Steine. Bei Sonnenlicht zeichnen sich die Gravuren der Künstler auf den Grabsteinen deutlich ab.“
Nicht nur das Visuelle, auch das Hör- und Fühlbare interessiert Michael Weisser. „Es gibt einen Naturgeschmack“, fasst er sein Empfinden zusammen. „Es ist der leichte Wind, die Schwüle, es sind die Klänge.“ Mit einem Rekorder hat er Töne auf dem Friedhof aufgenommen: die Frösche im See, die Krähen, den Sturm. Den Autoverkehr möchte er dabei nicht ausblenden, ihm gehe es nicht um ein falsches Idyll, sagt er. Mit seinem Projekt möchte der Künstler die Veränderungen auf dem Riensberger Friedhof dokumentieren und Historisches für die Nachwelt erhalten. Er habe einen Plan des Friedhofs von 1895 gesehen und mit der heutigen Situation verglichen. „Es ist erschreckend, wie viele Grabstellen davon nicht mehr da sind.“
Auf seiner Internetseite www.rice.de ist sein Projekt „Bremen-Ansichten“ unter dem Stichwort „Feldforschung Bremen“ bereits umfangreich dokumentiert. Wer dort auf den Punkt Friedhof Riensberg klickt, kann bereits die grobe Struktur der Dokumentation erkennen, die Michael Weisser auch über die kommenden Jahreszeiten hin fortführen möchte.
Weitere Informationen
Der Medienkünstler Michael Weisser sucht Fotografien, Postkarten, historische Dokumente zum Riensberger Friedhof. Speziell Ansichten von Grabsteinen und Friedhofsstimmungen, möglichst mit exakter Datierung. Die Bilder und Dokumente sind zur Veröffentlichung bestimmt. Wer über Material verfügt, wird gebeten, per E-Mail Kontakt zu Michael Weisser aufzunehmen: MikeWeisser@yahoo.de.
Es besteht die Möglichkeit, dass Weisser bei einem Hausbesuch die Bilder persönlich sichtet und dokumentiert. Dokumente können auch beim Staatsarchiv Bremen, Am Staatsarchiv 1, Telefon 361 62 21, abgegeben werden.