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Flüchtlingscamp auf Lesbos Freiwilliger Helfer Kiy: „Die Kinder haben Albträume“

Für zwei Wochen war der angehende Mediziner Cemsid Kiy im Gesundheitszentrum in einem griechischen Flüchtlingslager aus Lesbos ehrenamtlich im Einsatz. Und er würde es wieder tun.
13.01.2021, 05:00 Uhr
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Von Matthias Holthaus

„Ich hätte nicht gedacht, dass ich ein paar Tage brauchen werde, um mich wieder zurechtzufinden“, gesteht der Bremer Cemsid Kiy. Der 27-jährige Medizinstudent hat mit dem Arbeiter-Samariter-Bund (ASB) für mehr als zwei Wochen auf der griechischen Insel Lesbos als ehrenamtlicher Helfer dazu beigetragen, die medizinische Versorgung im Flüchtlingslager Kara Tepe 2 zu gewährleisten.

„Ich habe gemerkt, dass ich unter Strom stand und gestresst war“, schildert der angehende Arzt einige Tage nach seiner Rückkehr nach Bremen. Es waren die dortigen Eindrücke, die ihn mitgenommen haben. Cemsid Kiy hatte gedacht, dass er sich vor der Reise die Zustände in dem griechischen Flüchtlingslager ein wenig vorstellen könnte. „Aber wenn man es gesehen hat, ist es doch anders“, stellt der 27-jährige ehrenamtliche Helfer ernüchtert fest. Kara Tepe 2 gehört zu den in Windeseile neu aufgebauten Ausweichlagern für die Flüchtlinge aus dem mit mehr als 12.000 Menschen überfüllten und Anfang September durch einen Brand zerstörten Camp Moria.

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Die schwierigen Lebensumstände in dem 7600 Menschen fassenden Lager hat Cemsid Kiy bereits Anfang Dezember geschildert. „Bei uns spiegeln sich die Probleme der Campbewohner wider“, erklärte er seinerzeit über seine Aufgabe, die er mit der eines Hausarztes verglichen hat. „Es gibt viele Hautkrankheiten, Krätze, aber auch Läuse, Würmer und Durchfallerkrankungen.“

Daneben sah sich das Mitglied des sogenannten Fast-Teams (First Assistance Samaritan-Team), der schnellen Einsatzgruppe für Katastrophen im Ausland, im Gesundheitszelt auf Lesbos auch mit Menschen mit posttraumatischen Belastungsstörungen konfrontiert, mit Depressionen und auch Suizid. Die Mediziner haben wenig Kapazitäten, darauf zu reagieren. „Bis die Menschen einen Therapeuten bekommen, müssen sie zum Teil sehr lange warten. Die Kinder haben nachts Flashbacks und Albträume“, berichtet das Fast-Team-Mitglied. Der Bedarf zum Beispiel an Kinderpsychiatern sei groß. Die Fluchtgeschichten haben sich ihm eingeprägt: „Eine Frau aus Somalia hat auf der Flucht in der Türkei ihr Kind geboren“, berichtet er. „Nach einem Fluchtversuch ist sie anschließend in die Türkei zurückgebracht worden, und dort ist das Kind im Alter von drei Monaten gestorben.“

Jeder zweite Patient mit möglicher psychischer Störung

Die psychische Problematik sei ihm und seinem Team zwar vor dem Einsatz bewusst gewesen. Doch dass dieses Problem so viele Menschen und jede Altersklasse betreffe, dass man bei jedem zweiten Patienten von einer psychischen Störung ausgehen konnte, „damit habe ich nicht gerechnet“, berichtet der 27-jährige Bremer, den selbst viele Bewohnerinnen und Bewohner mit psychischen Problemen im Gesundheitszentrum aufgesucht hätten.

Besonders in seinem Gedächtnis haften geblieben, sind Cemsid Kiy darüber hinaus „die Unterkünfte der Leute. Sie haben keine Heizmöglichkeit und kein heißes Wasser.“ In der Nacht seien die Temperaturen teilweise auf sechs Grad gesunken, zudem hätten in dem Flüchtlingscamp beengte Wohnverhältnisse geherrscht: In den 24 Quadratmeter großen Zelten hätten jeweils zwei Familien gelebt. Kein Wunder, dass Kinder dabei leicht heißen Tee verschütten können, findet Cemsid Kiy.

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Immer wieder kam es zu Unfällen. „Ein Kind von eineinhalb Jahren haben wir auch wegen Verbrennungen behandelt“, erzählt der ausgebildete Rettungsassistent. „Das war schön, es zum Schluss geheilt gehen zu lassen“, erinnert er sich. Für Cemsid Kiy fing der Alltag im Camp morgens um acht Uhr mit einer Besprechung an. Die medizinischen Kapazitäten wurden geklärt, anschließend begann die Behandlung der Patienten oder aber ihre Vermittlung an andere Organisationen wie etwa „Kitrinos Healthcare“. Es ist eine Nichtregierungsorganisation, die sich der Hilfe für Flüchtlinge im medizinischen und psychischen Bereich in Griechenland verschrieben hat.

Darüber hinaus sorgte Cemsid Kiy aber dafür, die Apotheke aufzufüllen oder Statistiken über aufgetretene Krankheiten zu führen. Nicht zu vergessen: „Die Kommunikation mit den anderen Organisationen.“ Im Camp sei Corona ein großes Thema gewesen, berichtet der Bremer Helfer. „An die Maskenpflicht haben sich die Bewohner gut gehalten. Wir haben aber Schutzkleidung getragen, denn der Inzidenzwert war im Camp niedriger als draußen. Deshalb mussten wir die Flüchtlinge schützen.“

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Corona scheint also momentan nicht das größte Problem zu sein. Dafür rückt ein anderer Umstand zusehends ins Blickfeld und bereitet Sorge: „Die Kälte wird schlimmer“, berichtet Cemsid Kiy. „Die Menschen haben zunehmend Probleme mit den Gelenken und dem Rücken.“ Und insgesamt würden die sanitären Anlagen zu wünschen übrig lassen. „Es gibt zu wenig Duschen und Toiletten und kein warmes Wasser.“

Die geballten Probleme haben dafür gesorgt, dass der Arbeitstag des 27-jährigen Medizinstudenten aus Bremen in der Regel über zehn Stunden gedauert hat. Dennoch möchte Cemsid Kiy diese Erfahrung nicht missen und sein Engagement gern wiederholen. „Am liebsten wäre ich auch noch länger geblieben und hätte weitergemacht“, sagt der Bremer. Noch absolviert er sein praktisches Jahr am Klinikum Bremen-Mitte. „Doch wenn ich im Sommer mit dem Studium fertig bin, wäre es eine Option, für eine gewisse Zeit noch einmal dorthin zu gehen.“

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In dieser Reihe schauen wir auf – coronafreie – Themen, die Bremen im vergangenen Jahr beschäftigt haben, und darauf, was aus ihnen geworden ist.

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