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Protest gegen Flüchtlingszelte Bündnis nimmt leer stehendes Gebäude symbolisch in Besitz

200 Menschen haben am Sonnabend in der Neustadt gegen die Unterbringung von Flüchtlingen in Zelten demonstriert. Sie forderten die Sozialbehörde auf, leer stehende Gebäude zu beschlagnahmen.
05.12.2015, 18:00 Uhr
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Bündnis nimmt leer stehendes Gebäude symbolisch in Besitz
Von Christian Weth

200 Menschen haben am Sonnabend in der Neustadt gegen die Unterbringung von Flüchtlingen in Zelten demonstriert. Sie forderten die Sozialbehörde auf, leer stehende Gebäude zu beschlagnahmen.

Traudel Kassel fällt auf: Sie hält einen aufgespannten Regenschirm, obwohl es nicht regnet. Sie ist 72, die meisten Menschen um sie herum sind nicht mal halb so alt. Später wird die Polizei sagen, dass es an die 200 Frauen und Männer waren, die sich in der Neustadt versammelt hatten. Sie sprechen laut aus, was sie ablehnen: dass Flüchtlinge in Zelte untergebracht werden, obwohl Häuser leer stehen. „Wohnraum für alle!“ Traudel Kassel fordert das auch, wortlos. An ihrem Schirm baumeln selbst gedruckte Zettel. „Leerraum“ steht auf einem, darunter sind Daumen, die nach unten zeigen.

Traudel Kassel ist schon mitmarschiert, als das Bündnis für Wohnen vor einem Jahr bei einem Rundgang nach leer stehenden Häusern Ausschau gehalten hat. An diesem Samstagmittag marschiert sie wieder. Der Veranstalter der Demo ist diesmal ein anderes Bündnis. Es nennt sich „Refugees welcome“ – Flüchtlinge willkommen. Klaus Neumann, rote Jacke, Dreitagebart, gehört ihm an. Er hat den Protest angemeldet und ist überrascht. Mit 100, vielleicht 150 Demonstranten hat er gerechnet. „Aber nicht mit so vielen.“

Plakate an den Scheiben

Der Mann steht mitten in der Menschenmenge vor einem Gebäude an der Lahnstraße, das erst Möbelhaus, später Kulturzentrum war. Die „Dete“, die mittlerweile „Ex-Dete“ genannt wird. Seit anderthalb Jahren, sagt Neumann, verfällt der Bau, weil sich niemand darum kümmert. Der Schriftzug über der Tür ist verwittert. Die Scheiben sind mit Plakaten beklebt. „Beschlagnahmt!“ steht auf den meisten. Das Bündnis hat symbolisch gemacht, was die Behörde amtlich machen soll.

„Sofort!“ Es ist Gundula Oerter, die das fordert. Sie steht neben Torsten Schlusche, der wie sie dem Bündnis angehört. Beide sind empört. Die Sozialbehörde, sagen sie, könnte wesentlich mehr Menschen aus Krisenregionen in Wohnungen statt in Zelten unterbringen, wenn sie nur wollte. Wenn sie nur endlich mal, wie Gundula Oerter meint, das von der Bürgerschaft veränderte Polizeigesetz anwenden würde. Seit Mitte Oktober darf Sozialsenatorin Anja Stahmann (Grüne) Grundstücke und Gebäude ab einer Fläche von 300 Quadratmetern beschlagnahmen, um Flüchtlinge unterzubringen. Für eine gewisse Zeit, gegen eine Summe zur Entschädigung. Die Behörde nennt das „sicherstellen“.

Schlusche sagt, dass das noch kein einziges Mal geschehen ist. „Stattdessen werden mehr und mehr Flüchtlinge in Zelte untergebracht.“ Das, meint er, ist menschenunwürdig. Das Wort fällt bei Bassam Ali nicht. Er ist ein Flüchtling. Er soll den Protestlern berichten, wie es sich in einem Zelt über Monate so lebt. Der Syrer, der mit 19 über Griechenland nach Deutschland gekommen ist, steht unter einem Transparent und hält ein Mikro in der Hand, damit ihn alle hören können. Bassam Ali liest von einem Zettel ab. Er redet englisch. Seine Worte werden hinterher übersetzt.

Der Mann erzählt, dass er froh ist, in Deutschland zu sein. Er bedankt sich mehrfach, mal bei Betreuern vor Ort, mal bei Menschen, die er kennengelernt hat und die ihm geholfen haben. Das Leben im Zelt, sagt er, ist schwierig. Bassam Ali spricht von Lärm, von Schmutz, von nächtlichen Gängen zu den Toiletten, die außerhalb der Zelte sind. Wer sie aufsuchen muss, berichtet er, muss durch Matsch und Pfützen waten. Der Syrer möchte eine Wohnung, wie sie jeder Mensch hat. Darum möchte er eben nicht als Flüchtling, sondern als Mensch anerkannt werden.

Es gibt Beifall. Auch Gundula Oerter und Torsten Schlusche klatschen. Die beiden Mitstreiter des Bündnisses verteilen eine Liste von Gebäuden, die ihrer Ansicht nach leer stehen. 13 Immobilien stehen auf dem Papier, alles Häuser in der Neustadt. Das Ex-Kulturzentrum „Dete“ ist auf Platz fünf. Nein, sagt Oerter, von innen haben sie es sich nicht ansehen können, nur von außen. Die Demonstranten setzen sich in Bewegung, aus der Kundgebung wird ein Protestzug. Sie wollen durch den Stadtteil gehen, zu anderen Immobilien auf der Liste.

Druck auf Behörde

Die Sozialbehörde kennt sie. Senatorin Stahmann ist zwar nicht bei der Demo, aber ihr Sprecher. Bernd Schneider sagt, dass die Gebäude überprüft werden und manche schon überprüft worden sind. Dass einige nicht infrage kommen und andere ohnehin schon als Flüchtlingsunterkünfte vorgesehen sind. Die Kritik mancher Protestler, die Behörde handele zu zögerlich, lässt er nicht gelten. „Wir haben das Polizeigesetz deshalb noch nicht angewendet, weil wir es bislang nicht anwenden mussten.“ Schneider berichtet von Verhandlungen, bei denen die Gesprächspartner bisher immer eingelenkt hätten.

Das Bündnis will dennoch den Druck erhöhen. Gundula Oerter kündigt weitere Demonstrationen in anderen Stadtteilen an. Ob Rentnerin Traudel Kassel wieder mitmarschiert, wird sich zeigen. Fragen kann man sie nicht mehr. Die 72-Jährige ist längst in die Kornstraße eingebogen, wo der Protestzug entlangführt. Ihren Schirm kann man nur noch erahnen.

Mehr Wohnungen für Flüchtlinge: 200 Menschen protestieren in der Neustadt. Sie werfen der Behörde vor, zu zögerlich zu handeln.

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