Im Bremer Abwasser werden seit Herbst vorigen Jahres kontinuierlich Virenrückstände von Corona nachgewiesen. Die Befunde aus der Kanalisation werden nach Angaben von Hansewasser-Sprecher Oliver Ladeur im Zuge eines Forschungsvorhabens des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung (UFZ) in Leipzig erhoben, an dem Bremen seit Oktober vorigen Jahres teilnimmt. Von der Kläranlage Seehausen werden seitdem mit einer kurzen Unterbrechung im Dezember ein bis zwei Abwasserproben pro Woche aus dem Zulauf der Kläranlage gezogen und an das Zentrum versandt.
Ziel des Projektes ist es, ein Frühwarnsystem zur Infektionslage in der Stadt aufzubauen. Denn ab 30 aktiv Infizierten je 100 000 Einwohner ist es nach einer Schätzung des Biologen René Kallies vom Leipziger Helmholtz-Zentrum möglich, Virenrückstände im Abwasser nachzuweisen. Das entspricht rechnerisch wenigstens vier bis fünf Corona-Neuinfektionen pro Tag. Dieser Wert wird in Bremen seit September vorigen Jahres durchgehend übertroffen.
Eine Empfehlung der Europäischen Kommission sieht vor, dass vom 1. Oktober 2021 an Städte mit mehr als 150.000 Einwohnern ihr Abwasser regelmäßig auf Coronaviren-Rückstände untersuchen. Vorreiter sind laut „Spiegel“ Luxemburg und die Niederlande. Dort gebe es bereits ein nahezu flächendeckendes Abwassermonitoring. In der Schweiz seien Spuren der britischen Mutante erstmals durch Abwasseranalysen nachgewiesen worden.
Jörg Drewes von der Technischen Universität München plädiert für eine schnelle Umsetzung der EU-Empfehlung. „Ein solches Frühwarnsystem könnte vor allem behördenintern gute Dienste leisten“, sagt der Inhaber des Lehrstuhls für Siedlungswasserwirtschaft. Er verweist auf Pilotprojekte im Landkreis Berchtesgaden und Karlsruhe. „Dort hatten wir fallende Inzidenzen und die Frage von Lockerungen stand im Raum“, sagt Drewes. Zeitgleich sei die Virenlast im Kanal wieder gestiegen. „Man hat dann mit Öffnungen gezögert. Tatsächlich stiegen nach einigen Tagen die durch Schnell- und PCR-Tests ermittelten Fallzahlen in der Stadt.“
Der Infektionsentwicklung nicht mehr nur hinterher laufen
In Berchtesgaden zeigten sich steigende und sinkende Fallzahlen im Abwasser stets einige Tage, bevor sich die Inzidenzen bewegten. „Man kommt damit vor die Lage und läuft der Infektionsentwicklung nicht mehr nur hinterher“, ist der Wissenschaftler überzeugt. Auch wenn Test- und Fallzahlen über das Wochenende und an Feiertagen sinken, könne man durch Abwasseranalysen kontinuierlich Daten der Infektionslage erhalten.
Gesundheitssenatorin Claudia Bernhard (Linke) bescheinigte der Idee ebenfalls ein gewisses Potenzial, bewertet eine Einführung jedoch skeptisch. „Aktuell sehen wir noch weiteren Forschungsbedarf, bevor so etwas geübte Praxis wird“, sagte sie in der jüngsten Fragestunde der Bürgerschaft. Sie liegt damit auf Linie des Bundesgesundheitsministeriums. Auch das will zunächst prüfen, „ob die flächendeckende Einführung eines Abwassermonitorings gemäß der Empfehlung der Kommission befürwortet werden kann“, wie es in einem Sachbestandsbericht der Bundesregierung heißt. Der punktuelle Nachweis in Pilotprojekten sei etwas anderes als die Etablierung eines regelmäßigen Überwachungssystems.
Abwasserexperte Drewes hält es für notwendig, die Daten schnell in eine digitale Lagebewertung einfließen zu lassen. „Wenn das nur eine weitere zusätzliche Excel-Tabelle ist, wird es vermutlich nicht viel nutzen.“ Eine zweite wichtige Rahmenbedingung ist nach seiner Einschätzung, dass Kanalisationssystem und politische Grenzen sich weitgehend decken. „Ziel ist, einen Zusammenhang zur amtlichen Inzidenz herzustellen, die auf eine Stadt oder einen Landkreis bezogen ist.“
Zwar könne man bei einer Stadt wie Bremen die Einleitungen aus dem Umland an den entsprechenden Übergabepunkten ebenfalls beproben und die Ergebnisse herausrechnen. Aber dadurch wachse der Aufwand. „Ab einem bestimmten Punkt lohnt sich das nicht mehr.“ Der Nutzen entfaltet sich laut Drewes vor allem, wenn die Ergebnisse zeitnah, am besten innerhalb von 24 Stunden nach Probenentnahme vorliegen. Das werde mit vielen Entnahmepunkten schwieriger.
Bernhard bezifferte auf Nachfrage der Grünen die Kosten im Bremer Pilotprojekt je Entnahmestelle auf rund 45.000 Euro pro Jahr bei wöchentlichen Proben; bei zwei Abwasserproben pro Woche entsprechend auf das Doppelte. Das von Drewes skizzierte Netz von dezentralen Entnahmestellen würde schnell einen siebenstelligen Betrag beanspruchen.