Allmählich ist wieder der Alltag eingekehrt. Die Ängste, die sie um ihren demenzkranken Mann ausgestanden hat, kann Ingrid Kyntschel aber nicht so einfach vergessen. Er hatte vermutlich eine Infektion und war nachts ins Klinikum Bremen-Mitte eingeliefert worden. Auf die Innere, wie sie erfuhr. Ansonsten aber blieb sie als pflegende Angehörige, die eine General- und Vorsorgevollmacht und damit ein Recht auf Auskunft hat, im Ungewissen. "Zwei Tage habe ich telefonisch niemanden erreicht", sagt sie. "Ich wusste nicht, was mit meinem Mann los ist. Keiner war zuständig. Man wurde den ganzen Tag vertröstet, zwei Tage lang. So hilflos habe ich mich in meinem ganzen Leben noch nicht gefühlt."
Also war sie aus Lilienthal nach Bremen gefahren. "Ich habe noch einen Schnelltest in der Apotheke gemacht und bin mit der Bescheinigung in die Klinik. Ich hatte alles dabei für ihn, aber ich durfte nicht auf Station." Wegen der Corona-Regeln. "Da hab ich gesagt: Ich gehe nicht weg, bevor ich einen Arzt gesprochen habe." Wie es ihrem Mann gehe, ob er aufstehen könne, habe sie von einem der Ärzte wissen wollen und eine launige Bemerkung zu hören bekommen: Ja, der Patient sei wohl in der Lage, aufzustehen – er habe einmal im falschen Bett gelegen. „Mir war nicht nach solchen Scherzen zumute, und das habe ich dem Arzt auch gesagt“, erzählt die Ehefrau.
Eine andere Ärztin habe ihr an einem anderen Tag erklärt, es werde noch ein Bluttest gemacht, und wenn der in Ordnung sei, könne ihr Mann an einem der nächsten Tage nach Hause. Weder eine Diagnose habe sie gehört noch eine Auskunft über die Medikamente bekommen. Eine Krankenschwester habe ihr versichert: "Wir machen nichts, wofür Sie eine Einwilligung geben müssen." Und als sie darauf bestanden habe, ihren Mann doch wenigstens kurz zu sehen, sei ihr dies verweigert worden. "Das war schlimm, ganz, ganz schlimm."
Fünf Tage blieb der Patient in der Klinik, fünf Tage, in denen er keinen Kontakt zu vertrauten Menschen hatte. Er sei aggressiv geworden, erfuhr die Ehefrau am Tag der Entlassung. Er, der zu Hause friedlich ist, habe einen Pfleger getreten. "Plötzlich durfte ich auf Station, auch wenn ich keinen Test gemacht hatte", sagt die Seniorin. "Um meinen Mann anzuziehen." Wie, fragt sie sich heute noch, ist das in der Zwischenzeit vor sich gegangen? Über den Allgemeinzustand ihres Mannes sei sie erschrocken: "Ich habe ihn gar nicht wiedergekannt!"
Dabei war es nicht der erste Klinikaufenthalt des demenzkranken Mannes während der Pandemie. "Er war auch schon im Joseph-Stift gewesen", sagt seine Frau. "Da konnte ich jeden Tag hin, hab ihn jeden Tag gewaschen und rasiert. Ich hab ein Attest, dass ich ihn zu den Ärzten begleite." Und das aus gutem Grund: "Für einen Demenzkranken ist es Gift, so abgeschirmt zu werden."
Im Rollstuhl habe ihr Mann gesessen, als er dieses Mal nach Hause gekommen sei, und sie habe schon gedacht, dass sie das Schlafzimmer ins Erdgeschoss verlegen müsse. "Jetzt läuft er wieder und geht wieder die Treppen rauf."
In der Gesundheit Nord (Geno) hat die Lilienthalerin inzwischen ein offenes Ohr gefunden. In einem Telefonat hat sie geschildert, wie sie diese fünf Tage erlebt hat. Das Angebot, noch einmal mit den behandelnden Ärzten darüber zu sprechen, hat sie abgelehnt. "Was bringt das jetzt noch?" Dass anderen Angehörigen derlei Erfahrungen erspart bleiben, ist ihr Anliegen. Was ihrem Mann aus medizinischer Sicht gefehlt hat, welche Medikamente ihm im Einzelnen verabreicht worden sind, weiß sie auch mehr als zwei Monate nach seiner Entlassung nicht, weil der Bericht noch immer nicht beim Hausarzt sei.