Frau Düring, als Gewerkschafterin muss Sie besonders betrüben, dass es in der Gesellschaft immer weniger Zusammenhalt gibt. Solidarität ist zur Mangelware geworden, nicht erst seit Beginn der Pandemie.
Annette Düring: Das ist leider so. Die Menschen haken sich meist nur noch dann unter, wenn es hart auf hart kommt und in den Betrieben Arbeitskämpfe anstehen. Ansonsten gibt es eine starke Tendenz zur Vereinzelung. Gefördert wird das unter anderem durch neue Arbeitsformen, durch die Digitalisierung vor allem. Aktuell auch durch Homeoffice. Die Leute kommen nicht mehr so zusammen, wie das früher der Fall war.
Eben, und das können Sie doch nicht wollen. Trotzdem fordern die Gewerkschaften zusammen mit der SPD, dass die Arbeitnehmer das Recht bekommen sollen, digital von zu Hause aus zu arbeiten. Sie schießen ein Eigentor.
Es kommt auf die Mischung an. Ich merke das bei mir selbst: Wenn ich in Ruhe konzeptionell arbeiten will, bin ich gerne zu Hause, sonst aber lieber im Büro. Meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern geht es genauso. Sie haben die Möglichkeit, an zwei Tagen pro Woche Homeoffice zu machen. Genutzt wird das aber nur selten, weil es einfach schöner ist, oft auch produktiver, mit den anderen zur selben Zeit und am selben Ort zu arbeiten. Trotzdem sollten Ausnahmen erlaubt sein, gerade bei Pendlern, die einen weiten Anfahrtsweg haben.
Wer länger vom Arbeitsplatz wegbleibt, verliert die Bindung – zu den Kollegen und zum Arbeitgeber. Ein anderes Bindemittel sind die Tarife, sie sind Ausdruck von Sozialpartnerschaft. Auch hier bröckelt es. Was tun?
Im öffentlichen Bereich kann man das über das Vergaberecht steuern, im privaten leider nicht. Bremen macht bei Bauaufträgen zur Bedingung, dass die Unternehmen sich an den Tarif halten, den Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände ausgehandelt haben. Richtig wäre, diesen Mechanismus auf den Dienstleistungssektor auszudehnen. Hier ist der Senat gefordert, vor der nächsten Bürgerschaftswahl tätig zu werden.
Und bei den privaten Firmen? Wie wollen Sie verhindern, dass immer mehr ausscheren und sich nicht länger an den Tarif halten?
Zunächst, indem ich an den Bremer Unternehmerverband appelliere. Er kann nicht einerseits bei jeder Gelegenheit die Tarifautonomie hochhalten, zum Beispiel beim Mindestlohn, und andererseits nichts dagegen tun, wenn Firmen auf den Tarif pfeifen. Den betroffenen Beschäftigten kann ich nur sagen, dass sie in der Situation auf die Gewerkschaft bauen sollten, dafür müssen sie allerdings Mitglied sein.
Da sagen Sie was . . . – vor zwölf Jahren, zu Beginn Ihrer Zeit als DGB-Chefin, hatte der Bezirk 123.000 Mitglieder. Wie viele sind es heute?
Heute rund 100.000. Ein Grund für den Rückgang sind die vielen Firmenschließungen. Hinzu kommt, dass zivilgesellschaftliche Organisationen allgemein an Bindekraft verloren haben. Dazu gehören wir auch.
Bei den Koalitionsverhandlungen für die neue Bundesregierung wurde mit dem Mindestlohn auch die Verdienstobergrenze bei Minijobs angehoben. SPD, Grüne und FDP schaffen prekäre Beschäftigung und sorgen dafür, dass nicht in die Rentenkasse eingezahlt wird – oder wie muss man das sehen?
Ich bin nicht grundsätzlich gegen Minijobs, für Rentner und Studierende ist das okay. Für alle anderen aber nicht. Wir erzeugen damit unsere eigene Armut. Arbeit sollte eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung sein.
Sie sind SPD-Mitglied. Ihre Partei hat die Änderung bei den Minijobs durchgewinkt. Teil eines Kuhhandels?
Das ist eine rhetorische Frage. Sie wissen genauso gut wie ich, dass die FDP das so haben wollte. Wir haben dafür den erhöhten Mindestlohn bekommen. So ist das eben, ein Geben und Nehmen.
Sie hören in dieser Woche als DGB-Chefin auf. Wie geht es weiter? Was sind Ihre Pläne?
Ich werde mich beim Integrierten Gesundheitszentrum in Gröpelingen engagieren. Das ist ein Ansatz, der mir gefällt. Er ist ganzheitlich und eng auf die Bedürfnisse der Menschen im Stadtteil zugeschnitten. Ein Stück gelebte Solidarität, die gibt es nämlich noch.