Er soll dieses eine Wort sagen: Ja. Zwei Buchstaben, mehr nicht. Die Leute im Raum warten darauf. Fast 40 Frauen, Männer und Kinder sind da. Einige sitzen, die meisten stehen. Es ist mucksmäuschenstill. Nur dieses Wort, gleich muss es kommen.
Nur wie soll es jemand sagen, der wie Stephen Hawking ohne Technik sprachlos ist? Der wie der Astrophysiker zu Hause einen Computer hat, den er mit den Augen steuern und auf diese Weise schreiben kann, was er sagen will? Der wie der britische Popstar der Wissenschaft eine Nervenkrankheit hat, die ihm nach und nach die Kontrolle über seinen Körper nimmt?
Erster Schritt durch Klassenlehrerin
Er macht es so gut es eben geht. Ohne Technik. Dieses Ja soll von ihm kommen. Denn so wie Hawking will der Mann – 35, schwarze Hose, bordeauxrotes Hemd, unheilbar krank – heiraten. Heute. Die Frau, die jetzt neben ihm sitzt und seine Hand hält, heißt Doris Laatz: 28, weißes Kleid, tiefschwarzes Haar, gesund. Er heißt in diesem Moment noch Tobias Christian Rene Dewers. Später wird sein Nachname so wie ihrer lauten.
Vor anderthalb Jahren lernen sie sich kennen. Wie das passiert, ist allen im Raum bekannt. Standesbeamtin Diana Kirschke erzählt es trotzdem: Die Doris will den Tobias ansprechen, traut sich aber nicht. Sie weiß nicht viel über ihn, eigentlich nur, dass seine Tochter auf die Grundschule in Farge geht. Statt mit ihm zu reden, spricht sie die Klassenlehrerin an – und die gibt der Tochter einen Brief an den Vater mit: „Hallo Herr Dewers, gestern war eine junge Frau bei mir, die Sie gerne einmal treffen möchte...“

Im Trauzimmer: Standesbeamtin Diana Kirschke erzählt vom Brief, der das Paar zusammenbrachte.
Beim ersten Treffen auf Krücken
Wie und womit ihre Beziehung beginnt, kann man an diesem Nachmittag im Trauzimmer des Schwaneweder Rathauses nicht bloß hören, sondern auch sehen. Die Geschichte mit dem Brief hat der Bräutigam als Bild auf dem rechten Oberarm, die Braut auf dem rechten Schulterblatt. Wenige Tage zuvor haben beide es sich in die Haut stechen lassen. Die Tätowierung schaut unter dem Träger des Brautkleids hervor: Eine Frau und ein Mann umarmen sich. Über ihnen ist ein Herz, unter ihnen ein Kuvert.
Als sie sich das erste Mal treffen, geht Tobias Dewers an Krücken. Zweimal wird er an der Hüfte operiert, zweimal tritt keine Besserung ein. Dann folgt die Diagnose: ALS, die Buchstaben stehen für Amyotrophe Lateralsklerose. Ärzte aus Bremen stellen sie, Spezialisten aus München bestätigen sie. Alle gehen von einem raschen Verlauf aus. Astrophysiker Stephen Hawking lebt mit der Krankheit seit Jahrzehnten. In Dewers‘ Fall rechnen die Mediziner in Monaten. Der ersten Prognose zufolge wäre der Nordbremer schon tot, laut der zweiten stirbt er diesen Winter.

Ein emotionaler Moment: der Hochzeitstanz.
Der Mann, den sie immer haben wollte
Die Krankheit verläuft so schnell, dass vieles, was Ärzte an Hilfsmitteln verschreiben, zu spät kommt. Die orthopädischen Spezialschuhe werden bewilligt, da braucht Tobias Dewers keine Schuhe mehr, sondern einen Rollstuhl. Der Rollstuhl wird geliefert, da hat er kaum noch Kraft in den Armen. Jetzt ist der Rollstuhl ein Elektro-Rollstuhl. Bei der Feier am Abend werden beide in ihm sitzen, Braut und Bräutigam zusammen. Er lenkt, sie lacht. So eröffnen sie den Tanz.
Standesbeamtin Diana Kirschke sagt, dass die heutige Trauung von Doris Laatz und Tobias Dewers die 55. in diesem Jahr im Schwaneweder Rathaus ist. Einen schwerkranken Mann und eine gesunde Frau hat sie noch nie vermählt. Sie glaubt, dass es Liebe sein muss: „Wirklich wahre Liebe.“ Tobias Dewers ist nicht reich. Stirbt er, muss die Familie aus der rollstuhlgerechten Wohnung, in die sie vor wenigen Monaten erst eingezogen ist, wieder ausziehen. Aber er ist der Mann, den Doris Laatz immer haben wollte. So hat sie das vor der Hochzeit gesagt, und so sagt sie es jetzt in ihrem Eheversprechen im Trauzimmer.
Schlaganfall mit viereinhalb
Auch Dewers gibt eines. Sein Vater liest es vor: „... Auch jetzt, in meiner Situation, bist du bei mir und tust so viel für mich... Wir haben in so kurzer Zeit sehr große Steine auf unserem Weg überwunden... Du bist die tollste Frau der Welt.“ Auf ihren Eheringen ist ein Schwur zu lesen: „Doris & Tobi für immer.“ Die Hochzeit hat sie ihm als Gutschein zum Geburtstag geschenkt. Doris Laatz sagt, dass er immer noch er ist. Dass er für die Krankheit nichts kann. Und dass es auch eine Zeit gegeben hat, in der sie gezweifelt hat, ob sie das alles durchhält.
Die Familie weiß das. Umso mehr ist Detlev Dewers davon überzeugt, dass seine Schwiegertochter die Richtige für seinen Sohn ist. Er nennt sie eine Kämpferin und seinen Sohn einen Kämpfer. Der Vater des Bräutigams sitzt hinterher allein im Trauzimmer. Alle anderen stoßen im Foyer mit Sekt und O-Saft an. Dewers, 63, weites Hemd, kurzes Haar, Schnurrbart, denkt zurück an die Zeit, als sein Sohn einen Schlaganfall bekam. Tobias Dewers war damals viereinhalb und halbseitig gelähmt: „Er hat sich als Kind zurückgekämpft.“
Urlaub in Dänemark
Jetzt wird nichts mehr besser, sondern alles immer schlechter. Anfang des Jahres konnte Tobias Dewers noch bruchstückhaft sprechen, nun nicht mehr. Im Januar konnte er noch ein wenig im Haushalt helfen, jetzt ist er es, der intensive Hilfe braucht. Seinen Namen kann er nicht mehr allein auf die Eheurkunde schreiben. Doris Laatz führt seine Hand.
Und doch wollen sie alles, was auch andere wollen. Die Ehe ist nur ein Wunsch von vielen Wünschen. Vor acht Monaten ist Tochter Fabienne geboren. Davor sind sie in die neue Wohnung gezogen. Danach waren sie im Urlaub. Nicht an der Côte d‘Azur, sondern in Dänemark. Nicht für drei Wochen, sondern für ein paar Tage. So lange es eben geht. Vor der Hochzeit hat Tobias Dewers mal geschrieben, dass es nicht so sehr darauf ankommt, wie viel Zeit man zusammen verbringt, sondern wie intensiv die Momente sind.

Vor der Zeremonie: Er weint, als sie im Brautkleid auf ihn zukommt und in den Arm nimmt. Tage danach wird Tobias Laatz auf seinem Computer schreiben, dass dieser Moment der schönste und intensivste für ihn war.
Hochzeit unter Freudentränen
Er könnte auch in einem Hospiz betreut werden, einen Platz hat er längst. Tobias Dewers, auch das ist ein Wunsch, will aber die Zeit, die er noch hat, bei seiner Familie sein. In ihrer Wohnung hängen fast ausschließlich Bilder an der Wand, die jeden zeigen, der zu ihr gehört. Dort ist er, daneben sie. Und dazwischen Fabienne sowie Leonie und Pia, die beiden älteren Töchter.
Es gibt viele, die sagen, dass Tobias Dewers ein emotionaler Mensch ist. Sein Vater beschreibt ihn so. Genauso wie seine Mutter, seine Schwester, seine beiden Brüder. Der Bräutigam weint, als er vor dem Rathaus der Reihe nach die Hochzeitsgäste begrüßt. Er weint, als seine Braut aus der weißen Kutsche steigt, während ihn ein Kleinbus mit Hebebühne gebracht hat. Und er weint, als ihm seine zwei großen Töchter entgegenlaufen. Tage danach wird er auf seinem Computer schreiben, dass es die schönsten und intensivsten Momente für ihn waren: „Unvergesslich.“
Wie ein kurzer Seufzer
Für Doris Laatz ist das der Eröffnungstanz im Saal des Rekumer Hofs. Erst gibt es Applaus für die Suppe und das Büfett, dann für sie und ihn, als sie zu zweit im Rollstuhl sitzen. Das Licht ist gedämpft. Auf den Tischen brennen Kerzen. Alle stehen im Kreis: Dahinten ist Annerose Lang, die Mutter, die sich um alles kümmert, wenn Ämter wieder Atteste brauchen. Dort sind seine Schwester Michaela Wendelken und sein Bruder Thomas Möbius, die ihm vor Monaten sagten, welche Diagnose die Ärzte gestellt haben und wie wenig Zeit ihm noch bleibt. Daneben steht Tim Dewers, der andere Bruder. Manche lächeln, andere haben ein Taschentuch in der Hand.
Es ist so wie am Nachmittag im Trauzimmer des Rathauses, als aus Tobias Dewers Tobias Laatz wird. Als er dieses eine Wort sagt, so gut er kann. Das Ja klingt wie ein kurzer Seufzer, der lange zurückgehalten wurde. Die Standesbeamtin strahlt.

Der Bräutigam kommt im Bus mit Hebebühne, die Braut in einer weißen Kutsche.
Die Serie
In dieser Serie geht es ums Leben, weil Tobias Laatz noch viel erleben will. Wie jeder Mensch. Mit dem Unterschied, dass ihm weniger Zeit bleibt als anderen. Der Mann rechnet nicht in Jahren, sondern in Augenblicken. Je intensiver sie sind, sagt er, desto besser. Laatz ist 35 und unheilbar krank. Ärzte gehen davon aus, dass er nur noch Monate hat. Welche Wünsche bleiben einem, wenn die Zeit extrem begrenzt ist? Was macht das mit jemandem, wenn er plötzlich erfährt, bald sterben zu müssen – mit seiner Frau, seinen Kindern, den Verwandten, den Freunden? Und ist es überhaupt möglich, intensiv zu leben, wenn man selbst auf intensive Pflege angewiesen ist? Wir werden Tobias Laatz und seine Familie begleiten. Heute zu einer Trauung, die seine eigene ist.