Tobias Laatz ist online. Er liest am Monitor, was seine Frau schon las – und schaut Videosequenzen, die sie bereits sah. Mal sind die Texte und Filme so sachlich wie die Packungsbeilage eines Medikaments, mal so emotional wie ein Werbespot. Es geht um Injektionen, um Stammzellen, um Forschung. Und immer wieder um die vage Aussicht, dass Tobias Laatz doch noch länger leben, vielleicht sogar gesund werden könnte. Beide hoffen. Auch wenn Ärzte sagen, dass es keine Chance auf Heilung gibt.
Tobias Laatz ist allein im Schlafzimmer. Er liest im Dunkeln, die Jalousien sind runtergezogen. Nur der Schein des Bildschirms beleuchtet sein Gesicht. Es glänzt vor Schweiß. Im Augenblick schwitzt er, im nächsten friert er. Seit Tagen geht das so. Hitze, Kälte, Kälte, Hitze. Es ist wie mit seiner Hoffnung: In einem Moment ist sie groß, im nächsten klein. An diesem Morgen ist sie irgendetwas dazwischen. Die Augen von Tobias Laatz bewegen sich hin und her. Er liest nicht mehr, er schreibt jetzt mit ihnen, was ein Sprachcomputer für ihn sagen soll:
„V-i-e-l H-o-f-f-n-u-n-g i-s-t v-e-r-l-o-r-e-n g-e-g-a-n-g-e-n.“
Vor Wochen war auf seinem Bildschirm ein Mann zu sehen, den andere Männer interviewten. Er sprach davon, dass die Pharmaindustrie und die Kliniken im Grunde gar nicht wollten, dass es Patienten wieder besser geht. Von den guten Geschäften, die sie mit Kranken machten. Und davon, dass Gesundheit deshalb quasi verboten werde. Der Mann zählte im Video viele Leiden auf, die eigentlich heilbar seien. Oder so gut wie. Auch die drei Buchstaben ALS nannte er. Sie stehen für Amyotrophe Lateralsklerose – eine Nervenkrankheit, bei der Menschen die Kontrolle über ihren Körper verlieren. Menschen wie Tobias Laatz.
Alle Muskeln werden nach und nach geschädigt. Erst in den Beinen und Armen, dann in den Händen, im Rücken, im Gesicht, in der Lunge. Vor einem Jahr konnte Tobias Laatz, 35, Nordbremer, drei Kinder, noch gehen und sprechen. Jetzt sitzt er im Rollstuhl und ist ohne Technik sprachlos. Vor Monaten bekam er eine Magensonde, weil ihm das Schlucken unmöglich wurde. Und vor Wochen einen Luftröhrenschnitt, um nicht zu ersticken. Irgendwann wird eine Maschine das Atmen für ihn übernehmen. Ärzte sagen, dass es Patienten gab, die so noch zwei oder drei Jahre gelebt haben.
"Die Hoffnung, dass der Mann uns helfen könnte, haben wir aufgegeben"
Doris Laatz kommt ins Zimmer. Hinter ihr ist Fabienne, die jüngste Tochter. Sie krabbelt nicht mehr, sie läuft inzwischen. Die Mutter will Essen machen. Sie setzt das Kind ins Bett, das neben dem von Tobias Laatz steht. Fabienne zeigt auf ihn – „Papa!“ Später kommt Pia, die Zweitälteste, von der Schule. Sie dreht sich vor ihm: „Gut, oder?“
Das Mädchen hat schwarze Striche auf den Wangen. Ihr helles Haar ist dunkel gefärbt und zu Zöpfen geflochten. Statt Jeans und Pullover trägt sie ein Kleid mit bunten Perlen. Pia als Indianerin. Heute war kein Unterricht, heute war Fasching. Auch der Mann vom Video hat nur vorgegeben, etwas zu sein. Doris und Tobias Laatz wissen das jetzt. Sie hat ein Buch von ihm gelesen, er sich wieder und wieder Interviews mit ihm angesehen.
Irgendwann haben beide andere Internetseiten gefunden – nicht von dem Mann, sondern über ihn. Auf einigen lasen sie, dass der Mediziner gar kein Mediziner ist. Auf anderen, dass Ärzte vor seinen Heilmethoden und dem Präparat warnen, für das er wirbt. Doris Laatz, 28, gelernte Verkäuferin, jetzt Mutter und Pflegerin, schüttelt den Kopf: „Die Hoffnung, dass der Mann uns helfen könnte, haben wir aufgegeben.“

Tobias Laatz sucht im Internet nach einer Antwort: Gibt es ein Medikament, das ihm helfen könnte?
Anfangs war sie so groß, dass Doris Laatz den Hausarzt der Familie auf das Mittel ansprach, dann die behandelnden Ärzte im Klinikum. Irgendetwas muss doch dran sein an der Substanz. Doch alle sagten ihr das Gleiche: dass es keine Testreihen für die vermeintliche Arznei gibt. Dass es sich bei der Flüssigkeit im Grunde um eine stark verdünnte Reinigungslösung handelt. Dass es gefährlich werden könnte, sie zu spritzen.
Es soll Menschen geben, die das getan haben. Sie schreiben im Internet, dass es ihnen seither besser geht. Nur weiß Doris Laatz nicht, ob das stimmt. Als sie noch nicht so genau wusste, was sie von den Berichten der Patienten halten sollte, haben ihr ein paar Leute zugeredet. Was, fragten sie, hat Tobias denn noch zu verlieren?
Die Frau antwortet heute mit einem einzigen Wort: „Alles.“ Sie will, dass es ihrem Mann besser geht, sie will am liebsten, dass er geheilt wird. Aber sie will ihn nicht zum Experiment machen. Nicht so. Nicht ohne ärztliche Aufsicht. Doris Laatz hat mittlerweile Kontakt zu einem Forschungszentrum in München aufgenommen. Sie hofft, dass die Wissenschaftler ihren Mann als Probanden für neue Medikamenten-Studien nehmen.
Hoffnung ist wie ein Motor
Es hat noch öfter Hoffnungen gegeben, die enttäuscht wurden. Mal ging es um Vitamine aus den Staaten, mal um Heiltees aus China – jeweils für mehrere Hundert US-Dollar die Monatspackung. Eine Klinik in Japan bot Massagen gegen ALS an. Mehrere Wochen hätte Tobias Laatz dort bleiben sollen. Doris Laatz sagt, dass sie sich mittlerweile daran gewöhnt hat, erst euphorisch, dann betrübt zu sein, wenn sich die Therapie oder das Präparat mal wieder als Geschäftemacherei herausstellt. Sie zuckt mit den Schultern: „Was soll ich machen, als weiter im Internet zu suchen?“
Hoffnung ist wie ein Motor, der keinen Schalter zum Ausstellen hat. Er läuft und läuft und läuft. Für Tobias Laatz hat der Motor einen Namen: „D-o-r-i-s.“ Er schreibt, dass er sich freut, wenn sie sich freut: über einen neuen Hinweis auf ein Medikament. Über Ergebnisse einer neuen Studie. Über Nachrichten von Leuten, die etwas Neues gelesen oder von anderen Leuten gehört haben. Tobias Laatz bekommt von ihr immer wieder einen Grund, an Hilfe zu glauben. Allerdings ist seine Hoffnung kleiner als ihre – „d-i-e A-n-g-s-t i-s-t g-r-ö-ß-e-r“.

Ehefrau Doris laatz informiert sich über alternative Heilungsmethoden
Tobias Laatz hat Angst zu ersticken, Angst um seine Familie und davor, noch weniger zu können und noch mehr auf Maschinen angewiesen zu sein. Rechts von ihm steht Fabienne im Bett und lacht, links von ihm reihen sich Apparate wie im Krankenhaus. Es sind mehr geworden. Tobias Laatz hat ein Sauerstoffgerät, einen elektronischen Tropf – und jetzt auch Technik, mit der seine Bronchien abgesaugt werden und die bei ihm einen Husten simulieren, weil er selbst nicht mehr husten kann.
Seit Kurzem hoffen Doris und Tobias Laatz erneut. Jemand hat ihnen von einer ALS-Therapie erzählt, die in den USA gerade getestet wird. Doris Laatz klingt wie eine Ärztin, wenn sie über das Verfahren spricht. Sie sagt, dass Patienten ein spezieller Wirkstoff ins Rückenmark injiziert wird. Dass sich bei Probanden geschädigte Nerven regeneriert haben sollen.
Und dass die Studie inzwischen Phase drei erreicht hätte – die letzte vor Veröffentlichung aller Ergebnisse. „In einem Jahr“, sagt Doris Laatz, „könnte die Heilmethode auf den Markt kommen.“ Später, wenn die Kinder schlafen, wird sie wieder am Rechner sitzen und lesen, was Tobias Laatz nach ihr lesen soll. Sie hat den Newsletter des amerikanischen Pharmakonzerns längst abonniert.