Der Bus ist da! Leonie und Pia haben gesehen, wie er vor das Haus gefahren ist. Wie die Männer ausgestiegen sind. Und wie sie die Rampe für den Rollstuhl ausgeklappt haben. Die beiden Schwestern rennen ihnen entgegen. Seit dem Morgen wissen die älteren Töchter von Tobias und Doris Laatz, dass sie einen Ausflug machen – nur nicht, wohin der Kleinbus die Familie an diesem Nachmittag bringen soll. Eine Überraschung. Mehr haben die Eltern nicht gesagt. Gleich soll es losgehen.
Doch es geht nicht los. Tobias Laatz sitzt im Rollstuhl und krümmt sich. Auf dem Monitor seines Sprachcomputers steht ein Satz, der abrupt endet: „M-i-r i-s-t r-i-c-h-t-i-g s-c-h-l-e-c-h-t, d-e-r K-r-e-i-s-l-a-u-f...“ Weiterschreiben kann er in diesem Moment nicht. Sein Oberkörper geht vor und zurück, sein Kopf nach links und rechts. Seine Augen, mit denen er schreibt, was der Computer für ihn sagen soll, sind mal weit aufgerissen, mal fest zusammengepresst.
Doris Laatz steht neben ihrem Mann und hält seinen Arm. Später wird sie sagen, dass ihm Stress sofort auf den Magen schlägt. Und dass sie ihm wegen des Ausflugs vielleicht zu schnell das pürierte Mittagessen über die Sonde durch die Bauchdecke gespritzt hat. Jetzt wischt sie ihm abwechselnd mit einem Tuch die Stirn und hält Küchenpapier unter sein Kinn. Tobias Laatz hat den Mund geöffnet, als müsste er gleich weinen oder schreien.
Er verliert die Kontrolle über seinen Körper. Seit Monaten. Der Mann, 35, Nordbremer, hat ALS. Die drei Buchstaben stehen für Amyotrophe Lateralsklerose. Nach und nach versagen alle Muskeln. Ärzte sagen, dass es keine Heilung gibt und er bald sterben wird. Entweder infolge einer Lungenentzündung oder durch Ersticken. Immer wieder muss er in die Klinik, wo Mediziner seine Atmung kontrollieren.
Die Fahrten
Jetzt geht sie schwer. Doris Laatz beugt sich zu ihm und sagt: „Wenn du nicht kannst, dann muss der Fahrdienst eben wieder fahren.“ Sie schaut ihn an, er schaut auf seine Füße. Sie stecken in dicken Socken und die dicken Socken in grauen Turnschuhen. Die zieht seine Frau ihm an, wenn sie zu zweit oder mit der Familie nach draußen wollen. Er trägt sie selten.

Die Familie vor dem Eingang des Legolandes in Dänemark.
Vor Kurzem hat es Tobias Laatz mal im Kopf überschlagen: „F-ü-n-f-m-a-l w-a-r-e-n w-i-r i-n d-i-e-s-e-m J-a-h-r w-e-g.“ Er zählt dabei „a-l-l-e-s“ mit. Auch den Ausflug zum Bunker Valentin, der nur einige Hundert Meter von ihrer Wohnung entfernt steht. An einen Zaun haben sie ein rosafarbenes Vorhängeschloss in Herzform gehängt, auf dem ihre Namen eingraviert sind – zur Erinnerung an ihre Verlobung.

Einmal waren sie mit den Kindern in einem Freizeitpark.
Ein anderes Mal waren sie mit den Kindern in einem Freizeitpark. Es gibt ein Foto, das Doris Laatz mit den Mädchen zeigt, wie sie in einer Eisenbahn sitzen, die so klein ist, dass die Mutter gerade mal hineinpasst. Das war im Frühjahr. Und ihr Urlaub im Spätsommer. Fünf Tage Dänemark. Auch davon gibt es Aufnahmen: Tobias Laatz in der Gondel eines Aussichtsturms, vor dem Eingang von Legoland in Billund, auf der Veranda ihres Holzhauses.
Tobias Laatz kann keine öffentlichen Busse nutzen
Die Ferien waren eine Spende. Genauso wie der Besuch neulich beim Circus Roncalli. Doris Laatz sagt, dass die Krankheit ihres Mannes nur ein Grund ist, warum sie kaum noch Ausflüge machen. Und dass ein anderer mit den Kosten für Privatfahrten zu hat. Einmal brachte sie ein mobiler Dienst ins Kino nach Schwanewede. Für die Tour hin und zurück zahlten sie 120 Euro.
Tobias Laatz kann keinen öffentlichen Bus mehr nutzen. Erst verlor er die Kraft in der rechten Hand, mit der er den Elektrorollstuhl lenkte. Nun ist auch seine Linke zu schwach, um den Joystick zu halten. Ein paar Meter schafft er noch, aber keine längeren Strecken. Deshalb muss Doris Laatz inzwischen steuern. Doch sie und der Rollstuhl passen nicht gleichzeitig auf die Hebebühne der Busse. Sie haben es probiert.
Im Flur sind jetzt die Stimmen der Kinder zu hören. Alle warten, alles ist gepackt. In der Tasche für Fabienne, der Jüngsten, sind Windeln, etwas zu trinken und ein Glas mit Brei – in der für Tobias Laatz mehrere Tücher, eine Spritze mit püriertem Essen und die Urinflasche. Sie stehen in der Küche, wo sich Janine Havermann gerade die Jacke anzieht. Die Familienhelferin will sich um die Kinder kümmern, damit sich Doris Laatz unterwegs um ihren Mann kümmern kann. So haben die Frauen sich das gedacht.
Die Männer vom Fahrdienst können nicht mehr warten. Es ist zwanzig nach zwei, um zwei sollte Abfahrt sein. Ralf Greve, der Fahrer, steht im Türrahmen zum Wohnzimmer. Er blickt zu Doris Laatz, sie blickt zu ihrem Mann. Tobias Laatz schüttelt langsam den Kopf. Seine Augen sind rot, als hätte er geweint. Greve nickt. Er hebt zum Abschied die Hand. Die Frau zieht ihrem Mann die Strickjacke wieder aus.
An Heiligabend in die Kirche - vielleicht
Pia geht in ihr Zimmer. Sie legt sich ins Bett und zieht die Decke über den Kopf. Leonie steht im Flur. Janine Havermann sagt ihr, dass sie ja einen anderen Ausflug machen könnten: „Wie wäre es mit Kino? Oder wollen wir in die Eislaufhalle nach Vegesack?“ Das Mädchen zieht sich die Gummistiefel wieder an. Nachher wird es allein mit der Familienhelferin wegfahren. Pia will nirgendwo mehr hin.
Greve und sein Beifahrer klappen die Rollstuhlrampe zusammen. Die Familie wollte zum Weihnachtsmarkt in die Innenstadt. 30 Kilometer hin, 30 Kilometer zurück. 220 Euro hätte die Fahrt gekostet. Tobias und Doris Laatz haben gespart. Den Ausflug wollten sie von dem Geld bezahlen, das sie zur Hochzeit bekommen haben. Greve sagt, dass sie der Familie nichts für die Anfahrt berechnen werden.
Tobias Laatz ist allein im Wohnzimmer. Er hat den Kopf zur Seite gedreht, die Augen geschlossen. Sein Atem geht wieder langsam. Die Krämpfe sind vorbei. Seine Frau ist in Pias Zimmer gegangen. Das Mädchen hat die Rollläden runtergelassen, als wollte es nichts und niemanden mehr sehen. Doris Laatz kniet neben dem Bett und streicht über das Haar der Tochter. Sie erklärt ihr, warum nicht immer alles so läuft, wie man es gerne hätte. Und dass es irgendwann einen neuen Ausflug geben wird – „versprochen“. Später sagt Doris Laatz, dass sie alle an Heiligabend in der Kirche sein werden. Vielleicht.
Teil 1: Die Hochzeit
Teil 2: Der Alltag
Teil 3: Die Freunde

Doris Laatz mit Fabienne: Wenn sie etwas plant, dann nicht lange im Voraus.
Der Plan
Mal wohin – weiter weg, mit der ganzen Familie, für ein paar Stunden, für ein paar Tage. Doris Laatz steht im Wohnzimmer und schüttelt den Kopf. Sie sagt, dass sie selten solche Gedanken hat. Dass planen nun mal schwierig ist, wenn man nicht weiß, was wird. Und wie es ihrem Mann in den nächsten Tagen geht, in zwei Wochen, in einem Monat. Und wenn sie doch mal solche Gedanken hat, dann bleiben die Pläne meistens vage. Die Wörter „irgendwann“ und „eventuell“ fallen bei ihr in diesen Momenten oft.
„Irgendwann“ wollen sie „eventuell“ noch mal an die Nordsee. „Tobi ist gern am Meer.“ Tobias Laatz sitzt im Rollstuhl vor dem Fernseher und nickt. Der Ton ist aus, sein Sprachcomputer an: „D-r-e-i- o-d-e-r v-i-e-r-m-a-l.“ So oft war er an der See. Mal mit Freunden, mal mit seiner ältesten Tochter Leonie – und einmal mit der ganzen Familie.
Weder Prospekte wälzen, noch Angebote vergleichen
Wohin es an die Nordsee gehen könnte, wissen sie noch nicht. „Das“, sagt Doris Laatz, „entscheiden wir kurzfristig.“ Im Voraus buchen, so wie andere Familien ihren Sommerurlaub schon im Winter und im Winter ihren Sommerurlaub, könnten sie nun mal nicht. Wenn Doris Laatz plant, dann meistens für den nächsten Tag oder für die nächste Woche.
Immer wieder Prospekte wälzen und Angebote vergleichen gibt es bei ihr deshalb nicht. Wenn sie denn an die Nordsee fahren sollten, dann gehe sie spontan ins Reisebüro, um für den nächsten Termin, an dem eine rollstuhlgerechte Wohnung frei ist, zu reservieren. Auch Ausflüge planten sie so – ohne Vorlaufzeiten, die sich über Wochen erstrecken. Höchstens über Tage.
Als sie sich kennenlernten, hatte Tobias Laatz andere Reisepläne als die Nordsee. Nach Paris sollte es gehen. Oder nach Venedig. Eigentlich will er mit dem Sprachcomputer schreiben, dass er romantisch ist. Doch seine Augen, mit denen er die Bildschirmtasten steuert, vertippen sich. Aus romantisch wird „r-o-m-a-n-i-s-c-h“. Beide lachen. Sie laut, er lautlos.