Noch vor einem halben Jahr hatte Annerose Lang einen einzelnen Aktenordner, auf dem sie den Namen ihres Sohnes schrieb. Mittlerweile hat die Mutter von Tobias Laatz einen zweiten für ihn angelegt – und wird bald einen dritten anfangen. Annerose Lang will alle Atteste, Anträge, Bescheide griffbereit haben, damit sie auf neue Post der Krankenkasse, des Medizinischen Dienstes, der Behörden sofort reagieren kann. Sie hofft, dass ihr Sohn zügig bekommt, was er gerade braucht. Doch so schnell, wie sie möchte, geht es oftmals nicht.
Annerose Lang sagt, dass es ihr schwerfällt, Geduld zu haben. „Wie soll ich nur dasitzen und abwarten, bis etwas passiert, wenn ich sehe, wie rasch die Krankheit bei Tobias voranschreitet?“ Die Mutter, 61, kurzes Haar, Brille, kann nicht verstehen, dass sie Sachbearbeitern immer wieder erklären muss, was ALS ist und mit einem macht. „Ich habe keine Zeit, weil mein Sohn keine hat.“
Markus Schnaars kennt solche Sätze. Der Chef des Landesverbands der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke Bremen-Niedersachsen hört sie immer wieder. „Die Unkenntnis mancher Berater ist groß – und die Zeit, die Betroffene damit verbringen, ihnen zu erklären, was ALS mit einem macht, zu lang.“ Vieles, was Patienten brauchen, meint Schnaars, kommt zu spät. Auch das hört er immer wieder. Der Landesverband organisiert Treffen, bei denen Patienten und Angehörige ins Gespräch kommen.
Schnaars macht keinem Berater einen Vorwurf, nicht über alle Krankheiten Bescheid zu wissen. „Dazu gibt es einfach zu viele.“ Der Verband versucht trotzdem gegenzusteuern. Er setzt auf seine Selbsthilfegruppen und den Austausch von Namen: Welcher Berater einer Krankenkasse oder Behörde kennt sich mit ALS aus, welcher hat schnell geholfen? Und er baut auf mehr Beratung. Seit diesem Jahr gibt es ein Team, das sich speziell mit dieser Krankheit und den Problemen befasst, die der schnelle Verlauf mit sich bringt.
Die Deutsche Gesellschaft für Muskelkranke arbeitet seit Langem mit einem Netzwerk zusammen, das noch etwas anderes will: Krankheiten, die wie ALS nicht häufig vorkommen, publik machen. Die Vereinigung nennt sich Achse – Allianz chronischer seltener Erkrankungen. 130 Selbsthilfegruppen in Deutschland gehören zu dem Bündnis. Sprecherin Saskia de Vries sagt, dass eine Krankheit als selten eingestuft wird, wenn fünf von 10 000 Menschen betroffen sind. Unter den seltenen Erkrankungen ist ihr zufolge die ALS eine der seltensten, jedoch nicht die unbekannteste.
De Vries begründet das zum einen mit Prominenten wie Astrophysiker Stephen Hawking und Maler Jörg Immendorff, die an ALS gestorben sind. Zum anderen mit Kampagnen wie der Ice Bucket Challenge – einer Herausforderung, bei der sich Menschen mit Eiswasser übergossen und anschließend andere nominierten, die es ihnen nachmachen und für die ALS-Forschung spenden sollten. Mehrere Hundert Millionen Euro, sagt die Sprecherin, sind dabei zusammengekommen: „Ein großer Erfolg.“
Wie erfolgreich die Forschung ist, kann de Vries nicht sagen. Sie weiß nur, dass es nach wie vor notwendig ist, über ALS zu sprechen – mit Politikern, Krankenkassen, Medizinern. Nach ihrer Rechnung gibt es bundesweit vier Millionen Menschen, die eine seltene Krankheit haben. So gesehen, meint sie, sind sie gar nicht so selten.