Tobias Laatz hat seine Frau schon oft überrascht. Mal mit Geschenken, mal mit Liebesbotschaften, aber nicht damit: „D-i-e K-r-a-n-k-h-e-i-t k-a-n-n m-i-c-h m-a-l.“ Die Stimme des Sprachcomputers ist so emotionslos wie immer, Tobias Laatz so zuversichtlich-heiter wie seit Wochen nicht mehr. Er lächelt, bringt seine jüngste Tochter zum Lachen – „F-a-b-i-e-n-n-e, g-u-l-e, g-u-l-e, g-u-l-e“ – und Doris Laatz damit zum Staunen. Seine Stimmung ist das genaue Gegenteil von dem, was man in seiner Situation erwartet. Denn die ist noch mal ernster geworden.
Ebene fünf, Zimmer 23. Tobias Laatz ist wieder im Krankenhaus. Seine Frau und Fabienne haben ihn so oft in der Klinik besucht, dass das Mädchen bereits am Gebäude erkennt, zu wem es gleich geht: „Papa.“ Fabienne läuft vor. Auf dem Flur der Station wird sie von Pflegerinnen begrüßt. „Na, da bist du ja wieder.“ Die Frauen winken, das Kind winkt zurück. „Nachher“, sagt eine der Schwestern, „komme ich gucken, was du bei deinem Papa machst.“
„F-a-b-i-e-n-n-e, g-u-l-e, g-u-l-e, g-u-l-e.“ Die Computerstimme ist lauter als die Maschine neben dem Klinikbett. Die Ärzte sagen, dass Tobias Laatz jetzt permanent Hilfe beim Atmen braucht. Seine Lunge ist zu schwach. Sie schafft es nicht mehr, das Kohlendioxid vollständig abzugeben, sodass sich Tobias Laatz ohne Technik auf Dauer selbst vergiften würde. Die Mediziner wollen ihn erst nach Hause entlassen, wenn dort ein Team von Intensivpflegern 24 Stunden lang über ihn wacht.
Doris Laatz ist ratlos. „Wie“, fragt sie, „soll ich so schnell neues Personal finden, damit Tobi wieder zur Familie kann?“ Bisher kamen vier Spezialistinnen für zehn Stunden täglich in die Wohnung, jetzt kommen sie gar nicht mehr. Der Pflegedienst hat unerwartet gekündigt. Warum, das weiß Doris Laatz nicht. Sie hat die Situation ihres Mannes auf Facebook geschildert.
Ihre Nachricht wurde in wenigen Tagen 5134 Mal geteilt. Freunde schrieben ihr, Patienten, Pflegekräfte. Die Ehefrau hofft, in zwei Wochen ein neues Team zusammenzuhaben. Zeitdruck – die Familie hat ihn so oft, dass Doris Laatz gar nicht sagen kann, wann es mal keinen gab. Die Krankheit schreitet schneller voran, als Hilfe und Hilfsmittel bereitstehen können.
Tobias Laatz, Nordbremer, drei Kinder, hat ALS. Die Buchstaben stehen für Amyotrophe Lateralsklerose. Alle Muskeln werden irreparabel geschädigt. Manche Patienten haben Jahrzehnte mit der Krankheit gelebt. Astrophysiker Stephen Hawking wurde 76. Tobias Laatz ist 35. Ärzte gehen davon aus, dass er nicht viel älter wird. Seine Form der ALS ist aggressiv.
Alles geschieht so rasch
Fabienne, ein Jahr und drei Monate, sitzt auf seinen Beinen und klatscht in die Hände. Sie hat die Stimme ihres Vater nie gehört, sie kennt nur die des Computers. Als Doris Laatz schwanger ist, kann ihr Mann noch sprechen, die Finger bewegen und stehen, wenn ihn jemand hält. Es gibt Fotos, die zeigen, wie sie mit dickem Bauch ein Glas mit Saft einschenkt, während er im Rollstuhl sitzt und Obst schneidet.
Manchmal schaut sich Doris Laatz kurze Videos auf dem Handy an – „nur um zu sehen, wie es mal war, nur um seine Stimme zu hören“. Alles, sagt sie, geschieht so rasch. Beide sind kaum zusammengezogen, da brauchen sie eine andere Wohnung. Sie gehen die Inserate auf Online-Plattformen und in Zeitungen durch, finden aber lange nicht das, was sie suchen: vier Zimmer, Küche, Bad, alles rollstuhlgerecht.
Über Monate muss Tobias Laatz auf dem Po die Treppe herunterrutschen, weil es im alten Haus keinen Fahrstuhl gibt. Will er nach oben, stützt er sich auf dem Geländer und seiner Frau ab. Auch damals starten sie einen Aufruf im Internet. Manches, was Ärzte verschreiben, Gutachter befürworten und die Krankenkasse bewilligt, kommt für Tobias Laatz zu spät.
Die orthopädischen Schuhe werden geliefert, da braucht er keine Schuhe mehr, sondern einen Rollstuhl. Der Rollstuhl trifft ein, da hat er kaum noch Kraft in den Armen. Aus dem Rollstuhl wird ein Elektrorollstuhl. Doris Laatz hat die Spezialschuhe unbenutzt zurückgeschickt und den ersten Rollstuhl nach wenigen Wochen abholen lassen. Wie zuvor die Krücken, die Schienen für die Waden, den Bewegungstrainer für die Beine.
Im Grunde könnte sie auch den Lifter zurückgeben, mit dem ihr Mann aus dem Bett in den Rollstuhl und aus dem Rollstuhl ins Bett gehoben werden soll. Seit Monaten liegt Tobias Laatz, ohne zwischendurch mal gesessen zu haben. Die Polster des Rollstuhls passen nicht mehr zu seinem Körper. Er braucht mehr Halt – und die Firma mehr Zeit, an das Zubehör zu kommen. Doris Laatz sagt, was ihr die Techniker gesagt haben: dass die Teile im Ausland bestellt werden müssen. Und dass es dauern kann, bis sie da sind. Wie lange, das sagten sie nicht.
Die Augen von Tobias Laatz bewegen sich jetzt von oben nach unten, von links nach rechts. Er schreibt mit ihnen auf einem Bildschirm, was der Computer für ihn sagen soll: „J-e l-ä-n-g-e-r i-c-h l-i-e-g-e, d-e-s-t-o s-c-h-n-e-l-l-e-r v-e-r-l-i-e-r-e-n d-i-e M-u-s-k-e-l-n a-n K-r-a-f-t.“ Noch haben sie welche. Er schreibt, dass die Krankengymnastin in der Klinik – wenn auch nur ganz kurz und ganz schwach – einen Gegendruck spüren konnte, als sie ihre Hand gegen seine drückte. Beide haben geweint.
Die Mediatorin soll vermitteln
Jemand klopft an die Tür. Nicht die Schwester kommt herein, die gucken wollte, was Fabienne bei ihrem Papa macht, sondern eine Mediatorin. Sie will zwischen Krankenhaus und Familie vermitteln. Die Ärzte meinen, dass Tobias Laatz am nächsten Tag in ein Heim für Senioren untergebracht werden sollte. Alle Plätze in Pflege-WGs sind belegt. Und nach Hause, argumentieren die Mediziner, kann er nicht, weil es dort noch keine 24-Stunden-Betreuung gibt. Doris Laatz findet, dass das nicht geht. Sie befürchtet, dass sich das Heimpersonal mit ALS kaum auskennt. Und dass ihr Mann nicht gleich zur Familie kann, sobald das Team für die Wohnung steht, sondern erst dann, wenn der Vertrag mit dem Heim ausläuft.
Irgendwann schlägt die Mediatorin einen Kompromiss vor: Was denn wäre, wenn Tobias Laatz nicht allein ins Heim käme? Sie schaut Detlev Dewers an, seinen Vater. Er sitzt auf dem zweiten Bett im Zimmer. Muss Tobias Laatz für Wochen ins Krankenhaus, ist er Tag und Nacht bei ihm – aus Sorge, dass sein Sohn nicht verstanden werden könnte, wenn der Sprachcomputer ausfällt. Dewers, 63, Werder-Trikot, Jogginghose, blickt in die Runde. Doris Laatz nickt, ihr Mann schließt einmal beide Augen, ein Code, der Ja bedeutet.
„F-a-b-i-e-n-n-e, g-u-l-e, g-u-l-e, g-u-l-e.“ Das Mädchen lacht und winkt ihrem Vater zum Abschied. Am Wochenende wird sie ihn wieder in der Klinik besuchen. Die Mediatorin ist später noch einmal ins Zimmer gekommen. Sie sagte, dass beide – Vater und Sohn – ein paar Tage länger bleiben können. Ein Aufschub. Der Zeitdruck bleibt.