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Encrochat-Verfahren in Bremen Verteidiger fühlen sich vorgeführt und veräppelt

Im größten Bremer Encrochat-Prozess schlug am Montag die Stunde der Verteidigung. Die nutzte dies, um in ihren Plädoyers massive Kritik am Vorgehen der Staatsanwaltschaft zu üben.
27.09.2021, 19:20 Uhr
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Verteidiger fühlen sich vorgeführt und veräppelt
Von Ralf Michel

Nachdem die Staatsanwaltschaft am Freitag aus dem Vollen geschöpft und durchweg hohe Freiheitsstrafen für die fünf angeklagten Drogenhändler gefordert hatte, zahlte die Verteidigung am Montag mit massiver Kritik an den beiden Vertreterinnen der Anklagebehörde zurück. Die hätten keinerlei Interesse an einer differenzierten Aufklärung der Tatvorwürfe gezeigt. Vielmehr sei es ihnen aus „dem übergeordneten Eigeninteresse einer staatlichen Behörde“ darum gegangen, Stimmung gegen die Angeklagten zu machen. 

Es geht in diesem Verfahren um die sogenannten Encrochat-Ermittlungen. Französische Polizisten hatten 2020 den Server des Messenger-Dienstes Encrochat infiltriert und kamen so europaweit einer Vielzahl von Kriminellen auf die Spur, die den verschlüsselten Nachrichtendienst nutzten. Auch in Bremen, wo sich fünf von ihnen seit März vor dem Landgericht für bandenmäßigen bewaffneten Drogenhandel verantworten müssen.

Genau hier setzte die Kritik der Verteidigung an der Staatsanwaltschaft am Montag an. In einem Rechtsgespräch aller Verfahrensbeteiligten war man während der Verhandlung übereingekommen, dass es zwar um Drogenhandel geht, aber weder um einen „bandenmäßigen“ noch um einen „bewaffneten“. Eine Mindeststrafe von fünf Jahren Gefängnis war damit vom Tisch, möglich waren jetzt auch Haftstrafen ab einem Jahr. Nach oben hin änderte sich nichts, da hieß es weiterhin „bis zu 15 Jahren“. Und diesen Rahmen schöpfte die Staatsanwaltschaft zur Überraschung der Verteidigung mit beantragten zwölfeinhalb beziehungsweise zwölf Jahren zumindest in zwei Fällen aus. 

Offensichtlich habe die Verteidigung mit dem Rechtsgespräch nur ruhiggestellt werden sollen, schimpfte einer der Anwälte. Er fühle sich "vorgeführt" und "veräppelt". Obwohl die schwersten Vorwürfe nicht mehr aufrechterhalten worden seien und sein Mandant gestanden habe, solle er für zwölf Jahre hinter Gitter. „Was hätten Sie denn beantragt, wenn er geschwiegen hätte und das bandenmäßig Bewaffnete nicht raus gewesen wäre?" Die rechtlichen Schlussfolgerungen der Anklagebehörde seien nicht im Entferntesten nachvollziehbar. Am Ende bleibe der Eindruck, es sei völlig egal, wie man sich als Angeklagter vor Gericht verhalte, man würde ohnehin hart verurteilt. Weil es der Staatsanwaltschaft offenbar vor allem darum gehe, welches Bild sie nach außen abgeben würde, legte später einer seiner Kollegen nach.

Neben der grundsätzlichen Kritik an der Verwertbarkeit der von der französischen Polizei gehackten Encrochat-Daten brachten die Verteidiger auch Vorbehalte an der Art und Weise vor, wie diese Informationen vor Gericht verarbeitet wurden. Immer wieder sei die Rede davon, dass die Ermittlungsbehörden tiefe Einblicke in die kriminellen Netzwerke gehabt hätten und ein komplettes Bild des Drogenhandels nachzeichnen könnten. Tatsächlich stimme dies nicht. Letztlich habe man nicht mehr als Chatverläufe innerhalb eines ganz bestimmten Milieus. "Da wird geschachert, da wird angegeben und übertrieben, da wird gelogen." Man müsse sich von der Vorstellung verabschieden, dass es sich bei den Chats um die hundertprozentige Wahrheit handele. "Einzelne Punkte können auch ganz anderes gewesen sein."

Für seinen Mandanten forderte der Verteidiger eine Strafe von maximal sechs Jahren Haft, vor allem aber die Einweisung in eine Entzugsanstalt. Der Angeklagte habe selbst einen Hang zur Kokainabhängigkeit. Daraus resultiere in Verbindung mit seiner Spielsucht ein symptomatischer Zusammenhang mit seinen Straftaten. 

Die beiden anderen Verteidiger, die am Montag gehört wurden, plädierten für ihre Mandanten jeweils auf eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren zur Bewährung ausgesetzt. Die Staatsanwaltschaft hatte siebeneinhalb Jahre beziehungsweise fünf Jahre und drei Monate Haft beantragt. Sein Mandant habe lediglich Beihilfe für einen Freund geleistet und in den drei eingeräumten Fällen insgesamt nicht mehr als 2300 Euro bekommen, argumentierte der Verteidiger in dem einem Fall. Im anderen machte der Anwalt geltend, dass sein Mandant nur ein einziges Mal selbst mit Drogen – 50 Gramm Kokain – gehandelt und diese Tat auch zugegeben habe. Für mehr gebe es trotz wochenlanger Observation und Abhören seines Telefons durch die Polizei keinerlei Hinweise.

Das Urteil in diesem Prozess wird am 29. September verkündet.

Zur Sache

Verwertbarkeit der Encrochat-Daten wird bestritten

Die Verteidigung der Angeklagten in den sogenannten Encrochat-Prozessen bestreitet weiterhin die Verwertbarkeit der von der französischen Polizei vorgelegten Daten. Das gesamte Vorgehen der Franzosen genüge nicht den deutschen Ansprüchen und wäre von einem hiesigen Gericht niemals genehmigt worden, lautet die wesentliche Kritik. Die Messenger-Daten seien ins Blaue hinein ohne konkreten Tatverdacht abgefischt worden. Zudem wisse niemand, wie die Daten anschließend nach Deutschland kamen – und wie Polizei und Staatsanwaltschaft dann vorgegangen seien. Kein deutscher Richter könne dies prüfen, weil die Generalstaatsanwaltschaft in Frankfurt die Akten dafür nicht freigebe. 

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